Das Ende Der Ausreden
können wir sie wahrnehmen, ohne sie positiv – oder negativ – umdeuten zu müssen, und dann entwickeln wir auch ein Gefühl für uns in dieser Situation, die wir überlebt haben.«
Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die wir uns gönnen sollten: dass wir einerseits freier und andererseits zugleich unfreier sind, als wir uns das im Alltag eingestehen. Wenn ich meine emotionalen Reaktionen als naturgegeben betrachte, gibt es keinen Ansatzpunkt, mein Phlegma zu beschleunigen, meine Unbeherrschtheit zu zähmen oder meine Melancholie aufzuhellen. Es stößt mir dann zu. Wenn ich aber meine emotionale Verfasstheit zwar als Antwort begreife, aber nicht als Notwendigkeit, dann sieht die Sache anders aus. Dann kann ich handeln.
Nicht, dass es einfach wäre. Meine Gewohnheiten zu ändern, vor allem auch meine inneren Gewohnheiten, ist nicht mühelos, ganz im Gegenteil. Diese Anstrengung müssen wir bejahen.
Es gibt keine Persönlichkeitsentwicklung light? Falsch: Natürlich gibt es sie. Aber: Wenn ich sie absolviert habe, kann ich den Betroffenheitsjargon sprechen, kenne die wichtigen Vokabeln und habe Seminare in Schloss Sowieso und im Kloster Da-und-da besucht. Habe »wahnsinnig viel gelernt«. Und nichts geändert.
Ich beginne erst, mich wirklich zu verändern, wenn ich mich in Ruhe und Ernsthaftigkeit mit dem echten Problem beschäftige, das meine Freiheit einschränkt – nämlich der Illusion, die wir Authentizität nennen. Zu sagen »Ich bin eben so!«, heißt nichts anderes als: »Ich weigere mich, die Verantwortung für die Gegenwart meines Lebens zu übernehmen.«
Auf »Ich bin authentisch!« zu beharren, heißt, eine aktuell bequeme, aber perspektivisch hoch problematische Verwechslung zu pflegen.
In dem Moment, in dem ich beginne, meine Verhaltensweisen als das Produkt sehr früher Erfahrungen zu verstehen, die mich aber nicht mein ganzes Leben beherrschen müssen, beginnt ein neues Spiel. Mit der Chance auf neues und frisches Glück.
10 Vertrieben aus dem Paradies bedingungsloser Liebe
Wir werden in eine Welt geboren, die es so nur ein einziges Mal gibt. Es ist ein häufiger Irrtum, dass Geschwister einer Familie in der gleichen Situation aufwachsen. Das Erstgeborene macht aus einem Paar eine Dreiecksbeziehung, die komplizierteste aller Konstellationen. Das zweite Kind findet diese Dreiergruppe bereits vor und ist nun der Vierte im Bunde. Für das dritte Kind sind wahrscheinlich beide Elternteile schon verteilt, es sei denn, nach zwei Söhnen kommt nun die herbeigesehnte Tochter (oder umgekehrt).
Jeder muss auf ganze eigene Weise seinen Platz finden und verändert zugleich durch sein Dazukommen das, was vorher war. Die Eltern können und werden nicht alle Kinder gleich lieben, auch wenn sie es gern würden und es meistens behaupten. Ihre Ehe ist nicht immer im selben guten oder schwierigen oder labilen Zustand, oft genug endet sie, ehe die Kinder groß sind, es kommen andere Spieler hinzu. Die materielle Situation kann in verschiedenen Phasen sehr unterschiedlich sein. Kurz: Jedes Kind findet eine unwiederholbare, einzigartige Situation vor.
Drei Kinder in der gleichen Familie hatten drei völlig unterschiedliche Kindheiten. Und wenn sie sich später darüber unterhalten, kann es passieren, dass sie gar nicht verstehen, wovon der andere spricht. »So waren unsere Eltern doch gar nicht!«, »Mir hat die Mama aber immer vorgelesen!«, »Ich kann mich nicht erinnern, dass der Vati so streng gewesen sein soll!« Alle haben recht in ihrer eigenen Erinnerung, aber sie ist nicht übertragbar. Für jeden war es anders.
Ein Kind braucht in seiner Welt, wie auch immer die sein mag, vor allem eines: Liebe. Es braucht das Gefühl und die Gewissheit, in dieser Welt gewollt zu sein. Es braucht einen Raum, in dem durch diese Liebe Vertrauen wachsen und gedeihen kann: in diese Welt, die anderen und sich selbst.
Wir sprechen nicht umsonst von Grundvertrauen. Dieses elementare, erste und alles entscheidende Vertrauen, dass ich mich nicht fürchten und nicht an mir selbst zweifeln muss, bildet das Fundament für alles Weitere. Je nachdem, wie meine ersten Jahre sind, erwerbe ich einen stabilen Boden, der mich verlässlich trägt, oder einen schwankenden Untergrund, der mich immer einmal den Halt verlieren lässt.
Spielen wir einmal einen Gedanken durch, der völlig theoretisch, aber für unsere Zwecke sehr hilfreich ist. Nehmen wir an, dass an dem ganz besonderen Platz, an dem ich in der Welt gelandet bin,
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