Das Ende Der Ausreden
besten klappt. So würde es beim Laufenlernen ganz nach seinem eigenen Tempo vorgehen. Hinfallen, sich aufrappeln, neu versuchen, wieder hindotzen, zum Ausruhen ein bisschen krabbeln oder liegen vielleicht, dann wieder hochziehen, hinfallen, aufstehen und irgendwann die Freude der ersten Schritte. Dazwischen keine Sorge, es nicht schnell genug zu lernen, langsam, plump oder ungeschickt zu sein. Lernen unter idealen Bedingungen, experimentierfreudig, spielerisch, ohne Angst.
Seine Selbstliebe wäre völlig unbeeinflusst davon, ob es das Laufen/Sprechen/Turm bauen/Fahrrad fahren rasant oder gemächlich lernt.
Nehmen wir ein anderes Beispiel aus dem späteren Leben. Das mittlerweile größere Kind will zum ersten Mal einen Ball möglichst weit werfen. Es funktioniert nicht. Der Ball ploppt viel zu schnell zurück auf den Boden. Das Kind hält inne, ärgert sich, sammelt Kraft und versucht es noch einmal. Und noch einmal. Es wird nicht besser. Irgendwann begreift das Kind, dass das wohl nicht zu seinen Talenten zählt, und wendet sich etwas anderem zu. Es hat eine neue Erkenntnis gewonnen, einen Mosaikstein in der realistischen Bilanz seiner Fähigkeiten. Weitwurf gehört nicht dazu. Das macht aber nichts. Es könnte unbefangen zur Kenntnis nehmen, dass es manche Sachen ausnehmend gut, manche durchschnittlich und andere gar nicht kann. Das gute Gefühl und die Freundschaft zu sich selbst wären davon völlig unberührt.
Eine schöne Vorstellung: uns nicht zu schämen für das, was wir nicht gut können; nicht so tun zu müssen als ob. Keine tadelnde Stimme mehr im Ohr zu haben. Der Widerhall des Vorwurfs oder der Enttäuschung, die wir erlebt haben bei denen, die uns in dies und jenem gerne anders gehabt hätten: endlich verstummt.
Was wir schon früh gelernt haben: Liebe ist nicht sicher
Eine Kindheit, in der es ausschließlich unbedingte Liebe gab, ist pure Theorie, unmöglich, Fiktion. Gleichwohl ist die Idee hilfreich, um zu verstehen, was mit uns in Wirklichkeit passiert ist.
Die meisten Menschen hatten, statistisch betrachtet, eine normale Kindheit. Das bedeutet: Es gab viel Gutes, einiges war außergewöhnlich gut, es gab viele Hürden, und manches war einfach nur schrecklich.
Wir können am Anfang nicht sachlich Buch führen, haben keine Excel-Tabelle, auf der wir abtragen: »Aus 80 Prozent meiner Kindheitssituationen kann ich entnehmen, ich bin okay. Das ist super, eine Zielerreichung, mit der ich mehr als zufrieden bin.« So kann ein Projektmanager denken, ein Kind nicht. Als Kind registriere ich jeden Entzug von Liebe als Katastrophe und in den frühen Jahren als lebensbedrohlich.
Und ich reagiere darauf mit der Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit, die einer gefährlichen Situation entspricht. Alles auf Alarm gestellt, alle Konzentration auf die Frage gerichtet, was ich tun kann. Meine gesamte Intelligenz läuft warm, um die Aufgabe zu lösen: Was muss ich tun, damit das Licht im Gesicht meiner Mutter wieder angeht? Was kann ich machen, damit Vater wieder freundlich auf mich schaut? Was kann ich tun, damit die Panik wieder abebbt?
Und Kinder schaffen das. Sie müssen ohne Publikumsjoker auskommen, sie lösen diese Frage ganz einsam und ganz selbstständig. Sie probieren aus, sie scheitern. Und irgendwann haben sie es heraus: was funktioniert, unter welchen Bedingungen sie wieder Liebe spüren können. Die Angst hört endlich auf. Und das merken sie sich mit jeder Faser. Das hat im Gedächtnis oberste Priorität. Sie passen sich an die Bedingungen an, die man ihnen stellt. Sei tapfer, sei gehorsam, mach dich unsichtbar, sei unkompliziert, geh über deine Gefühle hinweg … Diese Bedingungen werden zu inneren Stimmen, die später auch dann noch funktionieren, wenn längst keiner mehr wirklich zu uns sagt, dass wir nicht trödeln oder keine Widerworte geben sollen. Wir sagen es uns den Rest unseres Lebens selbst, auch wenn wir das gar nicht bemerken.
Wir lernen, dass Liebe nicht sicher ist. Ich kann nicht darauf bauen, dass sie immer da ist, wenn ich sie brauche. Manchmal ist sie plötzlich weg. Manchmal knirscht das Eis, zuweilen bricht es. Nie werde ich wieder so unbeschwert und leichtfüßig gehen wie zuvor, ich muss meine Schritte ab jetzt anders wägen. Ich habe den Freibrief auf Liebe ohne Bedingungen verloren. Und damit auch die unbedingte Liebe zu mir selbst.
Ich bin dann okay, wenn …
Um es vorwegzunehmen: Ich verliere sie nicht wirklich, sie ist nicht verspielt. Aber sie verschwindet vorerst
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