Das Ende Der Ausreden
Blick auf mich selbst, der keine Ausreden mehr braucht und der dadurch zugleich Änderung erreichen kann, wo die angstgetriebene Leugnung vorher nur Erstarrung und Verhärtung bewirkte.
Die Beschäftigung mit der eigenen Biografie ist kein munterer Spaziergang durch immer nur lichte und leicht zugängliche Gefilde meiner Erinnerung. Unsere eigene Geschichte ist eine komplizierte Angelegenheit, sie ist nur lückenhaft zu erschließen, sie entzieht, verbirgt sich. Und wenn man sich ihr zuwendet, macht das nicht nur Freude, es kann kratzen und stechen, und manchmal spült Treibgut nach oben, das man gerne auch im Meer des Vergessens gelassen hätte.
Freilich kann ich mich mit meiner Kindheit auch so beschäftigen, dass ich meine Erkenntnisse anschließend als neue Ausredengeschütze auffahre. Das ist nicht Sinn der Sache, gleichwohl eine ungeplante Nebenwirkung vieler Therapieversuche. »Mein Vater hat sich der Familie entzogen, er war unfähig, eines seiner Kinder zu umarmen. Daher bin ich so schroff.« Fazit gezogen, Kapitel geschlossen. Wir sind auf einer neuen Ebene von Ausreden angelangt. Psychologisch fundiert. Aber leider nicht geeignet, einen Fortschritt zu erzielen.
Wenn die Schlussfolgerung hingegen wäre: »Meine Schroffheit wurzelt wohl in der meines Vaters. Ich bin dabei, das zu überwinden. Es ist nicht leicht, aber ich bleibe dran!«, dann haben wir es mit einem Menschen zu tun, der sich seinen Wurzeln stellt und sie zugleich zu überwinden oder – wie die Schweizer Psychotherapeutin, Dozentin und Autorin Verena Kast so schön formuliert – zu »überwachsen« trachtet.
Verantwortung kann ich nur übernehmen, wo Bewusstheit und Reflexion walten. Solange ich mich nicht mit dem auseinandersetze, was meine inneren Grundannahmen, Überzeugungen, Selbstverständlichkeiten sind, wirken diese unbeobachtet, und ich pflege die Täuschung. Wenn ich ganz fest davon überzeugt bin, dass ich mich als Steinbock so verhalten muss , wie ich es tue, ent-schuldet mich das dann? Habe ich ein Anrecht darauf, dass man mir meine sternzeichenadäquate Sturheit nachsieht?
Nein, denn es gibt die prinzipielle Möglichkeit der Erkenntnis. Eine komplizierte Kindheit spricht mich nicht von der Aufgabe frei, heute mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Solange der entstandene Schaden in meiner Seele und meinem Körper mir nicht die Erkenntnismöglichkeit an sich verschließt, bin ich zu Verantwortung fähig. Ich kann wegschauen oder hinsehen, ich kann mich abfinden oder mir meinen eigenen Weg suchen. Ich habe diese Freiheit, ich kann wählen.
Wir sind, wie wir sind. Aber heißt das auch, dass wir uns nicht ändern können?
Solange wir mit der ganz normalen neurotischen Meise davongekommen sind, kann man von uns erwarten, Verantwortung zu übernehmen. Und wir sind – und sei es durch Hilfe anderer – fähig, einen Irrtum aufzudecken. Die eigentliche Täuschung ist nicht die, dass wir so sind, wie wir sind, sondern, dass daran nichts zu ändern wäre.
Wir sollten uns lösen von den albernen Ausreden, mit denen wir unsere Bequemlichkeit und die Lustlosigkeit, uns anzustrengen, kaschieren wollen. Ich kann pünktlich sein, wenn ich es wirklich will. Und wenn – das gehört dazu – meine Umwelt mir dazu auch Anlass bietet.
Michael ist legendär für seine Unpünktlichkeit. Wenn man ihn einlädt, muss man damit rechnen, dass er zwischen einer halben und zwei Stunden später eintrudelt. Immer mit dem gleichen Gesichtsausdruck zwischen Traumverlorenheit und großer Hetze, die er sich in der letzten Viertelstunde zugemutet hat. Die Haare sturmzerzaust. Verschiedene Tricks wurden versucht, man lud ihn einfach eine Stunde früher ein, als die Party tatsächlich begann, aber nichts fruchtete. Irgendwann, als er zu einem gesetzten Abendessen wieder einmal erst zum Hauptgang kam, platzte der Gastgeberin unerwartet der Kragen. Sie sagte ihm ohne Übertreibung, aber auch, ohne mit einem Lachen oder Lächeln den Ernst zu mildern, dass es sie wirklich sehr störe, immer auf ihn warten zu müssen.
Das machte einen verblüffenden Unterschied. Es tat ihm leid. Er hatte sich genauso wie alle anderen daran gewöhnt, unpünktlich zu sein. Tatsächlich hatten alle das Spiel mitgespielt. Man rechnete damit, dass er zu spät, kam, er kam zu spät, und man scherzte darüber. Und woher sollte dann bitte schön eine Notwendigkeit kommen, etwas zu ändern?
Zum Lernen brauche ich Feedback von anderen, auch wenn ich es manchmal ungern höre. Wenn
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