Das Ende der Geduld
die sie sämtlich nicht besitzt, und dies in so schneller Folge, dass sie erst aus dem System rausgeflogen ist, nachdem sie den jeweiligen Kaufpreis eingestrichen hatte. Der Schaden beläuft sich auf einige Hundert Euro. Ich hoffe, dass sie die Taten einräumt, denn ansonsten darf ich in einem weiteren Termin die zwanzig Geschädigten aus der gesamten Bundesrepublik anreisen lassen oder muss sie an ihrem Heimatort von einem anderen Richter vernehmen lassen. Die erste Variante ist kostspielig, die zweite zeitraubend. Aber das Glück ist mir hold und die Angeklagte bekennt sich frank und frei zu den Betrügereien. Als Grund gibt sie glaubhaft an, ihr damaliger Freund und Vater ihres Kindes - das sie übrigens im Kinderwagen mitbringt, während der Erzeuger über alle Berge ist und keinen Unterhalt zahlt - habe ihr zu den Taten geraten, um einen finanziellen Engpass zu überwinden, der seinerzeit in Handy-Vertrags-Schulden bestand. Ich finde es gut, dass sie nicht versucht, alles auf den Expartner abzuwälzen, was sonst häufig geschieht. Auch hier geht es mir nicht um Bestrafung, sondern in erster Linie darum, die Schadensregulierung auf den Weg zu bringen. Das hat den Vorteil, den Rechtsfrieden durch einen einzigen Prozess herstellen zu können. Ansonsten müsste nämlich jeder einzelne Geschädigte sein Geld beim Zivilgericht einklagen. Im Extremfall also 21 Prozesse: Die heutige Verhandlung plus zwanzig Verhandlungen einmal quer durch Deutschland sowie Gerichtskosten, die die Geschädigten erst einmal vorschießen müssen, die danach aber im Verurteilungsfall von der Täterin getragen werden sollen. Diese kann dann damit Jahre beschäftigt sein. Eine solche Prozedur wäre schlecht für das Baby, umständlich für die Opfer und viel vermeidbare Arbeit für die Justiz. Also verurteile ich die inzwischen 19-Jährige unter Anwendung des Jugendstrafrechtes zur Schadensregulierung. Hört sich prima an, ist es aber nur dann, wenn die junge Frau tatsächlich die vereinbarten kleinen Raten zahlt. Tut sie das nicht, kann ich bis zu vier Wochen Beugearrest verhängen. Zu diesem Mittel greift das Gericht dann, wenn durch Urteil erteilte Weisungen oder Auflagen nicht erfüllt werden. Davon zu unterscheiden ist der sogenannte Urteilsarrest. Dieser wird dann angeordnet, wenn dem Jugendlichen durch den Freiheitsentzug unabhängig von anderen Maßnahmen „eindringlich zum Bewusstsein gebracht werden muss, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat". Im Falle der jungen Mutter geht bei Verhängung eines Beugearrestes möglicherweise der Stress wegen des Kindes los. Außerdem sind nach der Verhängung und Verbüßung der vier Wochen meine Möglichkeiten, das Urteil durchzusetzen, erschöpft. Dennoch entschließe ich mich zu dieser Maßnahme und vertraue auf meinen Eindruck, dass es gut gehen wird. Mal sehen.
Der 10.30-Uhr-Termin steht an - eine „Verkehrssache". Der 17-jährige Angeklagte ist ohne Führerschein, unter dem Einfluss von Tilidin stehend, mit dem tiefergelegten schwarzen BMW seines großen Bruders durch Neukölln gesaust. Tilidin ist ein Teufelszeug. Obwohl verschreibungspflichtig, kursiert es in großen Mengen im Bezirk. Es wird nahezu ausschließlich von jungen Männern konsumiert und verringert zum einen das eigene Schmerzempfinden, zum anderen hat es eine stark enthemmende Wirkung. Einige jugendliche Muslime bevorzugen es nach eigenem Bekunden, weil sie sich einreden, dass dieses Medikament schließlich weder Droge noch Alkohol sei, deren Konsum ihnen aus Glaubensgründen untersagt ist.
Der Angeklagte bestreitet, den PKW gefahren zu haben. Angeblich habe er nur im Auto gesessen und auf einen Kumpel gewartet. Die Polizeibeamten, die ihn längere Zeit beobachtet, verfolgt und schließlich vor einer Spielhalle in dem BMW hinter dem Lenkrad sitzend angetroffen haben, bekunden glaubhaft das Gegenteil. Dennoch bleibt der junge Mann hartnäckig bei seiner Darstellung. Der Grund ist ersichtlich: Die Jungs wissen, dass im Falle der Verurteilung neben der eigentlichen Sanktion auch die Erteilung einer Fahrerlaubnis untersagt werden kann. Die Verwaltungsbehörde würde dann vom Gericht angewiesen, dem Angeklagten für ein oder zwei Jahre keine Fahrerlaubnis zu erteilen. Wer hingegen schon eine besitzt und z. B. eine Trunkenheitsfahrt begeht, dem wird der Führerschein entzogen. Das ist für die männliche Klientel nicht nur in Neukölln oft der Super-GAU, wird doch über das Autofahren Männlichkeit
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