Das Ende der Geduld
Beweisaufnahme bevorsteht. Wenn der Angeklagte auf Anraten seines Verteidigers nichts sagt oder die Taten bestreitet und etliche Zeugen aufbietet, die zu seinen Gunsten aussagen sollen, kann sich eine Hauptverhandlung über Wochen oder Monate hinziehen. Dabei gilt bis zuletzt die „Unschuldsvermutung": Solange nicht die Schuld bezüglich jeder einzelnen Tat festgestellt ist, gilt der Angeklagte vor dem Gesetz als unschuldig.
Der prozessuale „Deal" sieht nun vor, dass sich das Gericht, die Staatsanwaltschaft und die Verteidiger vor Prozessbeginn oder in der laufenden Hauptverhandlung auf eine Strafe, die im Mindest-und Höchstmaß jeweils begrenzt ist, verständigen, falls ein Geständnis oder ein Teilgeständnis abgelegt wird. Das verkürzt das Verfahren natürlich. Diese Vorgehensweise stellt meiner Ansicht nach aber eine Art Notstandshandlung dar, um überhaupt in vertretbarer Zeit zu einem Abschluss zu kommen. Die Wirkung auf manche Angeklagte halte ich jedoch für fatal. Sie wissen, was sie getan haben. Sie sagen kein Wort dazu, sondern lassen häufig durch ihren Verteidiger eine pauschale Erklärung verlesen, in der die ihnen zur Last gelegten Taten ganz oder teilweise eingeräumt werden. Das ist bequem und zudem bekommt man auch noch „Rabatt". Ich finde es jedoch auch wichtig, in der Hauptverhandlung einen eigenen Eindruck vom Verhalten des Angeklagten zu erhalten. Bereut er die Taten? Zeigt er Emotionen? Hat er Empathie für die Opfer? Diese „Strafzumessungserwägungen" stehen dem Gericht bei derartigen Verfahrensabsprachen nicht mehr zur Verfügung. Außerdem soll die Strafe oder jede andere Rechtsfolge am Erziehungsbedürfnis der Angeklagten ausgerichtet werden. Gerät dieses nicht aus dem Blickfeld, wenn ein Ergebnis abgestimmt wird, mit dem „alle leben können"?
Die Geschädigten fühlen sich dagegen, so sie denn vernommen werden, durch die Vernehmungen in der Hauptverhandlung oft erneut zum Opfer gemacht. Ich bin in den letzten Jahren mehrfach angerufen worden, weil die Zeugen das Bedürfnis hatten, ihr Unverständnis über den Verlauf der Sitzung zum Ausdruck zu bringen. Außerdem kündigten sie an, nie wieder eine Straftat anzuzeigen, um nicht noch einmal aussagen zu müssen. Inzwischen habe ich sogar Schwierigkeiten, manche Zeugen überhaupt zu motivieren, bei Gericht zu erscheinen. Die Angst sitzt ihnen bereits im Vorfeld der Verhandlung im Nacken. Sie werden nach ihrem Bekunden nicht selten aus dem Umfeld der Angeklagten bedroht.
Ein weiterer erheblicher Grund der langen Verfahrensdauer liegt in den zahlreichen psychologischen und psychiatrischen Begutachtungen der Angeklagten bezüglich ihrer Schuldfähigkeit. Gerade im Bereich der Gewaltdelikte werden diese Gutachten häufig durchgeführt, weil kein Verfahrensbeteiligter in der Lage ist, die Motivation der Angeklagten aus eigener Sachkunde heraus zu erfassen. Für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens können weitere zwei bis drei Monate ins Land gehen.
Ich selbst glaube nicht, dass die Probleme mit den umfangreichen Verfahren ausschließlich durch mehr Richterstellen oder Staatsanwälte in der Justiz zu lösen sind, weshalb ich an dieser Stelle auch nicht jammern und klagen werde. Im Bundesdurchschnitt ist die Berliner Justiz personell rein rechnerisch nicht schlecht ausgestattet, obwohl vön den der Staatsanwaltschaft Berlin zustehenden 326 Staatsanwälten momentan nur 278 tatsächlich zur Verfügung stehen. Leider wird bei der Berechnung der „Richterpensen" und der Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaft der konkrete Umfang einzelner Verfahren nur unzureichend berücksichtigt. Es ist ein Unterschied, ob komplizierte Betrugstaten mit Kettenüberweisungen ins Ausland aufzuklären sind, ob man fünf Angeklagte oder nur zwei vor sich hat, ob alles bestritten wird und viele Entscheidungen angefochten werden. Hier wird nicht hinlänglich differenziert. Wenn ich mich mit Kollegen aus den Flächenstaaten unterhalte, sind diese jedenfalls irritiert zu hören, welche Taten die Richter und Staatsanwälte in Berlin zu bearbeiten haben.
Wir Jugendrichter liegen deshalb in Berlin mit einer durchschnittlichen Verfahrensdauer von vier Monaten vom Eingang der Akte bis zu ihrem gerichtlichen Abschluss im Bundesdurchschnitt nicht im vorderen Feld. Ähnlich verhält es sich mit der Bearbeitungsdauer der Ermittlungsverfahren bei der hiesigen Staatsanwaltschaft.
Gerade in den Einzelrichterverfahren können wir uns aber verbessern, wenn wir
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