Das Ende der Geduld
sagen, was ihr Recht ist, oder den Vorwurf bestreiten, was sie ebenfalls dürfen.
Die Geständnisbereitschaft der Angeklagten hat nach meiner Wahrnehmung in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Die Autoknacker aus Friedrichshain und die rechten Schläger aus Pankow bekannten sich meist zu ihren Taten. Heute ist das anders. Da muss oft jeder Zeuge vernommen werden. Teilweise ist bei den Zeugen, die bei der Polizei noch angegeben haben, „alles ganz genau gesehen zu haben", in der Zwischenzeit eine Art kollektive Amnesie eingetreten. Das kann unterschiedliche Gründe haben. Manchmal ist Angst im Spiel, manchmal wollen sich die Geschädigten nicht erinnern, weil sie sich inzwischen mit den Angeklagten „irgendwie geeinigt haben". Anderen Richtern und mir fällt zudem auf, dass von allen Beteiligten immer häufiger schlicht und ergreifend das Blaue vom Himmel heruntergelogen wird. Aus diversen Hauptverhandlungen resultieren dann neue Verfahren wegen der Falschaussagen.
Die Verteidigung der Angeklagten wird zudem von manchen Strafverteidigern auf konfliktträchtige Art geführt. Beim Landgericht ist diese Entwicklung noch deutlich häufiger zu beobachten als beim Amtsgericht. Dort können schon einige Verhandlungstage vergehen, bis es überhaupt zur Verlesung der Anklage kommt, weil die Verteidiger z. B. bezweifeln, dass das Gericht richtig besetzt ist. Aber auch das Jugendschöffengericht hat über viele mehr oder weniger sinnvolle Einwände, Gegenvorstellungen und Beweisanträge zu entscheiden. Das zieht vor allem dann eine deutliche Verfahrensverzögerung nach sich, wenn die Verteidiger unvorhergesehen in der Sitzung seitenlange, vorbereitete Anträge vortragen, auf die man unmittelbar gar nicht reagieren kann. Weshalb können die gewünschten Aufklärungen nicht vor den Terminen angekündigt werden?
Teilweise muss das Gericht auch wegen der Art der Befragung der Zeugen einschreiten, was meine Kollegen und mich dann sofort in die Gefahr bringt, wegen Befangenheit abgelehnt zu werden. Diese Anträge sind zwar fast immer unbegründet, verlängern den Prozess aber zusätzlich, weil dann andere Richter darüber befinden müssen, ob der Richter unvoreingenommen ist oder nicht. Außerdem tauchen zunehmend nach mehreren Verhandlungstagen wie aus dem Nichts weitere Personen auf, die zuvor keine Rolle gespielt haben, aber bekunden sollen, dass sich alles ganz anders zugetragen hat. Während des zähen Ringens um die Aufklärung des Tatgeschehens lümmeln sich manche Angeklagte auf den Stühlen herum und langweilen sich. Die Opfer werden dagegen in die Mangel genommen und sollen z. B. bei fünf der Körperverletzung angeklagten Jugendlichen für jeden Einzelnen angeben, ob mit dem rechten oder linken Fuß zugetreten wurde. Das alles ist, wie gesagt, von der Strafprozessordnung gedeckt. Die Verteidiger dürfen so agieren und es gibt durchaus Fälle, in denen ihre Anträge zu einer milderen Strafe führen. Es sollen auch diejenigen Anwälte nicht unerwähnt bleiben, die sich eher kooperativ verhalten, mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft in sinnvolle Vorgespräche eintreten, ohne dabei die Interessen des Mandanten aus dem Auge zu verlieren. Dennoch: Das Klima ist insgesamt rauer geworden.
Vielleicht hat aber die Unerbittlichkeit, mit der heute teilweise gestritten wird, auch ein wenig damit zu tun, dass mehr als 14.000 Rechtsanwälte in Berlin zugelassen sind. Der Markt ist hart umkämpft. Es ist schwierig geworden, sich zu etablieren. Als ich 1990 in den Justizdienst eintrat, gab es 3000 Anwälte, diejenigen aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt nicht mitgezählt.
Insgesamt zeigt sich, dass der Umfang, den manche Verfahren inzwischen angenommen haben, teilweise in keinem Verhältnis zu den uns zur Verfügung stehenden Mitteln und zeitlichen Ressourcen steht.
Unter anderem aufgrund dessen hat der Gesetzgeber eine Vorschrift in die Strafprozessordnung eingefügt, deren Anwendung ich im Jugendstrafverfahren für problematisch halte: die „Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten" (§ 257 c). Das Jugendschöffengericht verhandelt, wie bereits angesprochen, jährlich um die achtzig Verfahren. Beim Landgericht sind es zwar weniger, dafür sind sie inhaltlich noch schwieriger. Wenn einige Verfahren „Intensivtäter", Totschlagsdelikte innerhalb rivalisierender Gruppen oder sogenannte politisch motivierte Taten betreffen, kristallisiert sich rasch heraus, dass ein Großverfahren mit einer gigantischen
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