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Das Ende der Geduld

Das Ende der Geduld

Titel: Das Ende der Geduld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Heisig
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50 Prozent der Befragten waren überdies Mädchen, die bekanntermaßen signifikant weniger Straftaten begehen als junge Männer. Die 9. Klassenstufe wird darüber hinaus von vielen delinquenten Jugendlichen gar nicht erst erreicht. Wie schon erwähnt: Standard der schulischen Laufbahn in sozialen Brennpunkten Berlins, wo die Grundschule sechs Jahre lang besucht wird, ist das Abgangszeugnis der siebten Klasse einer Hauptschule, die gemeinhin dreimal durchlaufen wird - ganz abgesehen davon, dass 20 Prozent der Neuköllner Hauptschüler der Schule dauerhaft fernbleiben.
    Welche Relevanz dem Rückgang der sogenannten meldepflichtigen „Raufunfälle" zukommt, ist dementsprechend aus meiner Sicht ebenfalls fraglich. Viele Straftaten mit Bezug zur Schule, die mir bekannt werden, spielen sich aufgrund der „Schuldistanz" häufig nicht auf dem Schulhof ab. Vielmehr verhält es sich oft so, dass vermehrt schulfremde Jugendliche, die, wie Yilmaz, Hussein und Kaan, vielleicht früher einmal Schüler der Einrichtung waren, sich auf der Suche nach verfeindeten ehemaligen Mitschülern befinden und diesen dann außerhalb des Schulgeländes auflauern, um sie zu verprügeln. In diesen Fällen wird kein „Raufunfair gemeldet, weil einfach das „Schlachtfeld" verlagert wird. Die Pädagogen und Sozialarbeiter berichten auch, dass sich die Schüler im Klassenraum verabreden, um nach dem Unterricht andere zu malträtieren. Auch in diesen Fällen können die Lehrkräfte nur selten reagieren. Außerdem herrscht inzwischen allgemein ein Klima, in dem die aufgrund der bestehenden Hackordnung unterdrückten Kinder und Jugendlichen es vorziehen, sich schlagen zu lassen, ohne dies der Schulleitung zu melden. Diese ruft aber gemeinhin den Arzt herbei. Es hätte mich zudem interessiert, ob bei den „Raufunfällen" auch die körperlichen Angriffe auf Lehrkräfte erfasst werden. Wenn mir Lehrer schildern, die Schulleitung habe ihnen geraten, nicht anzuzeigen, dass sie von Schülern attackiert werden, kommen mir insgesamt Zweifel, ob die durchgeführten Befragungen die Realität abbilden können.
    Eine weitere interessante Erkenntnis der Studie hinsichtlich des angeblichen allgemeinen Rückgangs der Gewalt fördernden Lebensbedingungen der Schüler muss ich ebenfalls stark bezweifeln. Auch hier wird die Sicht verstellt, weil im Rahmen dieser generalisierenden Aussage völlig untergeht, dass in den Ballungszentren Deutschlands, etwa im Ruhrgebiet, Frankfurt am Main oder Berlin, Kinder in Familien heranwachsen, die seit Jahren und teilweise Jahrzehnten Sozialleistungen in Anspruch nehmen und in denen Alkoholismus das Hauptproblem darstellt. Die daraus resultierende innerfamiliäre Gewalt ist eine tickende Zeitbombe für jedes in diesen Strukturen aufwachsende Kind und für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. In Deutschland leben drei Millionen Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Vor einigen Jahren waren es halb so viele. Diese Menschen sind oft der verbalen Gewalt ihrer Eltern ausgesetzt, sie verkommen geistig, seelisch und körperlich. Sie finden eindeutig Gewalt begünstigende Lebensbedingungen vor.
    Eine weitere, im Kern ebenfalls bereits etablierte These aus der Kriminologie beschäftigt sich mit dem sogenannten „Anzeigeverhalten". Sie besagt, steigende Kriminalitätsraten seien auf vermehrte Anzeigen zurückzuführen. Ketzerisch gesagt: Wenn die Bevölkerung es unterlassen könnte, Straftaten anzuzeigen, gäbe es fast keine Kriminalität. Insbesondere mit Blick auf die Opfer körperlicher Übergriffe entsetzt mich diese Betrachtungsweise immer aufs Neue. Mir ist es dabei gleichgültig, ob ein Geschädigter sich im kriminologischen Dunkel- oder Hellfeld bewegt. Die Taten sind zu bekämpfen, nicht die Zahlen. Im Übrigen habe ich noch nie gelesen, dass der statistische Rückgang von Delikten mit der sinkenden Anzeigebereitschaft der Opfer in Relation gebracht wird. Der Rückgang der Bereitschaft, eine erlebte Straftat auch anzuzeigen, wird mir in der Praxis jedoch viel häufiger vermittelt. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die bereits angesprochenen Opfer, die spätestens nach der Gerichtsverhandlung, in der sie sich einer Gruppe recht entspannter Angeklagter gegenübersahen, später äußerten, sie fühlten sich durch die Vernehmung nochmals zum Opfer gemacht und würden nach dieser Erfahrung niemals wieder eine Straftat anzeigen. Dass ein und dieselbe Person mehrfach geschädigt werden kann, manchmal auch von derselben

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