Das Ende der Geduld
Tätergruppierung, gebe ich zusätzlich zu bedenken. Neu war mir im Kontext des „Anzeigeverhaltens" die Annahme, speziell Jugendliche mit Migrationshintergrund seien deshalb in den Statistiken stets überrepräsentiert, weil sie häufiger von deutschen Opfern angezeigt würden. Das ist nicht widerlegbar, deckt sich allerdings aus den dargestellten Gründen ebenfalls nicht mit meinen praktischen Erfahrungen. Bestätigen kann ich allerdings die Feststellung, dass bei Straftaten innerhalb derselben Ethnie weniger Anzeigen erstattet werden. Die Tendenz, Konflikte innerhalb des eigenen Kulturkreises zu regeln, ist ebenso unübersehbar wie problematisch. Man mag sich zunächst dem Reflex hingeben, es könne mancher Streit doch im sozialen Umfeld besser, schneller und nachhaltiger beigelegt werden, als wenn jedes Mal die Polizei gerufen wird. Das stimmt, wenn es sich dabei um kleinere Beleidigungen, eine Ohrfeige, vielleicht auch um noch nicht so ernsthafte Bedrohungen handelt. Es ist aber ein zunehmendes Phänomen, dass sich auch erhebliche Körperverletzungen plötzlich nicht mehr aufklären lassen, weil „man die Sache bereits Vinter sich geregelt habe". So bekundete ein libanesischer Angeklagter, dem vorgeworfen wurde, einen anderen jungen Libanesen wegen einer vorangegangenen Auseinandersetzung um das angemessene öffentliche Auftreten einer weiblichen jungen Verwandten mit einem Messer schwer verletzt zu haben, „Araber" klärten das untereinander und es sei bereits ein Geldbetrag zwischen den Familien als Ausgleich vereinbart worden. Im Übrigen sei ein Imam in die Angelegenheit eingeschaltet worden.
Manche Geschädigte kommen in die Verhandlung und wollen ihre Anzeige zurücknehmen, ohne die Gründe dafür darzulegen. Wenn man dann erklärt, dies sei bei gefährlicher Körperverletzung und im Übrigen bei allen Delikten, die von Amts wegen zu verfolgen seien, nicht möglich, erntet man Reaktionen zwischen Erstaunen und Verärgerung. In jedem Fall bekommt man vom „Opfer" keine verwertbare Aussage mehr. Das ist dann eine schwierige Situation für das Gericht und im Weiteren auch für den Rechtsstaat.
Immerhin haben es diese Verfahren bis in den Gerichtssaal geschafft. Mir berichten aber zunehmend junge Menschen, dass sich die schlimmsten Prügeleien unter Verwendung unterschiedlichster Waffen bewusst in rasender Geschwindigkeit zutragen, weil man sich zwar gegenseitig an die Kehle geht, aber keiner will, dass die Polizei Gelegenheit hat, einzugreifen, bevor die Sache erledigt ist. Ich habe selbst einmal eine Schlägerei in Berlin-Mitte beobachtet, in deren Verlauf Männer südländischen Aussehens mit Holzlatten aufeinander eindroschen, nachdem sie zuvor aus einem Hauseingang gerannt waren. Obwohl die Polizei relativ rasch eintraf, waren plötzlich alle wie von Zauberhand verschwunden. Manchmal vernehme ich in diesem Zusammenhang Stimmen wie: „Na, dann ist es ja auch gut, wenn eine derartige Einigkeit besteht." Mich beschleicht dabei eher ein ungutes Gefühl, denn das Recht wird aus der Hand gegeben und auf die Straße verlagert oder in ein paralleles System verschoben, indem dann ein Imam oder andere Vertreter des Korans entscheiden, was zu geschehen hat.
Zwei letzte Thesen möchte ich hier ansprechen. Die erste ist die ständig wiederholte und nach meinen Erfahrungen auch zutreffende Behauptung, dass Kinder aus Migrantenfamilien stärker der Gewalt ihrer Eltern ausgesetzt sind als Kinder deutscher Familien. Jugendrichter bearbeiten auch die sogenannten Jugendschutzverfahren, in denen Kinder Opfer von Straftaten werden. Wenn die obige Behauptung zutrifft, wo bleiben dann die Verfahren wegen „Misshandlung von Schutzbefohlenen" oder wegen „sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen"? Ich habe viele derartige Fälle verhandelt, als ich noch für die Berliner Bezirke Pankow, Prenzlauer Berg und Friedrichshain zuständig war. Außerdem habe ich über einen längeren Zeitraum richterliche Videovernehmungen von Kindern durchgeführt, die Opfer ihrer Eltern oder sonstiger Verwandter geworden waren. Es war kein Kind mit Migrationshintergrund dabei. In Neukölln-Nord tendiert die Anzahl dieser Verfahren gegen null. Weder die meist ebenfalls zugewanderten Nachbarn noch Erzieherinnen und Erzieher in Kindertagesstätten, Mitarbeiter an Schulen und Jugendämtern oder die Kinderärzte zeigen in dem zu erwartenden Umfang Verdachtsfälle an. Liegt dies daran, dass es keine körperlich sichtbaren Hinweise auf
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