Das Ende der Geschichten (German Edition)
verurteilen.»
«Man würde vollkommene Barmherzigkeit empfinden», fuhr ich fort. «Wenn man die Menschen und ihre Motivationen verstehen würde, könnte man tatsächlich niemanden mehr verurteilen. Man wäre ja identisch mit ihnen, wie Rowan sagt, und dann wäre es so, als würde man sich selbst verurteilen.»
«Dann wäre man wohl tatsächlich eins mit Gott», sagte Conrad.
***
Wie sich herausstellte, war Hey Joe der einzige Song, den Bob, Rowan und ich gemeinsam kannten, und so spielten Rowan und ich die Akkorde auf Bobs akustischen «Ersatzgitarren», während Bob den Rhythmuspart übernahm. Libby hätte eigentlich singen sollen, kannte aber den Text nicht. Deshalb musste ich singen und bekam das auch einigermaßen hin, obwohl Rowan mich die ganze Zeit über ansah. Mark war kurz nach dem Essen gegangen, weil er angeblich Magenprobleme hatte. Nachdem auch Conrad und Sascha aufgebrochen waren, tranken wir noch eine Flasche libanesischen Wein, den Bob aus dem Laden mitgebracht hatte; er bestand darauf, ihn ganz langsam durch ein Musselintuch hindurch zu dekantieren. Libbys Augen röteten sich immer mehr, und ihr Gesicht wurde immer blasser, bis sie irgendwann auf dem Sofa einschlief. Bob schien das gar nicht zu registrieren. Er wollte uns noch diesen und dann noch jenen Riff zeigen, und ich saß da, sah Rowan an und hatte schreckliches Herzklopfen. Unsere Blicke trafen sich wieder und wieder. Mir schien, als stellten mir seine Augen eine Frage, ich war mir aber nicht sicher, was für eine. Sie lautete nicht direkt: «Darf ich dich nochmal küssen?», sondern war deutlich komplizierter, aber ich konnte nicht sagen, inwiefern.
Gegen halb eins rief ich B. herunter, die oben im Gästezimmer geschlafen hatte. Ich hatte zu viel getrunken, um noch Auto zu fahren, deshalb nahm ich sie an die Leine und vereinbarte, meinen Wagen am nächsten Tag holen zu kommen. Rowan klimperte immer noch auf einer von Bobs Gitarren. Doch als ich aufbrechen wollte, warf er mir einen Blick zu und sagte: «Ich sollte auch langsam gehen.» Wir verabschiedeten uns und brachen gemeinsam auf.
«Wohin musst du?», fragte ich ihn, obwohl ich es ganz genau wusste.
«In Richtung Burg», antwortete er. «Aber ich begleite dich noch nach Hause. Es ist schon spät.»
«Das ist doch nicht nötig.»
«Ich möchte aber.»
Wir gingen zum Flussufer, und B. lief schwanzwedelnd neben uns her. An der ersten Bank hielt sie an, um sie zu beschnüffeln. Ich blieb ebenfalls stehen, doch Rowan ging weiter. Als er merkte, dass wir zurückgeblieben waren, kehrte er um.
«Ich fürchte, mein Hund ist ein wenig langsam», sagte ich. «Sie muss immer an allem schnüffeln.»
«Das muss ja hier hochinteressant für sie sein. So viele Gerüche.» Rowan bückte sich und streichelte B. den Kopf. Er tat es auffallend lange, und plötzlich kam mir die Frage in den Sinn, ob er wohl ebenso oft daran dachte, mich zu berühren, wie ich ihn.
«Ja, vermutlich schon», stimmte ich ihm zu.
Es war eine neblige, sternenlose Nacht, und draußen auf dem Meer klagten die Möwen.
«Meg …» Rowan hörte auf, B. den Kopf zu streicheln, richtete sich wieder auf und fasste mich am Arm. Dann zog er die Hand rasch wieder weg.
Wir drehten uns beide zum Fluss um. Dann sah ich ihn wieder an. Wie würde es weitergehen, wenn wir uns noch einmal küssten? Wir konnten unmöglich miteinander ins Bett gehen. All meinen Phantasien zum Trotz war er doch einfach zu alt – zu alt, als dass wir eine gemeinsame Zukunft haben könnten. Außerdem war ich gebunden und er auch, und so lief das nun einmal nicht auf der Welt. Und dennoch – ich war beschwipst und wusste, wenn er mich küsste, würde ich seinen Kuss erwidern.
Er blickte zu Boden und räusperte sich. «Lise hat mich verlassen», sagte er mir.
«O nein», sagte ich. «Wann denn?»
«Na ja, inzwischen ist sie wieder da.» Er fröstelte. «Es war vor zwei Tagen.»
«Sie ist wieder da? Sie hat dich verlassen und ist dann zurückgekommen?»
«Sie hatte einen Sinneswandel. Jetzt will sie, dass wir zur Paartherapie gehen.»
«Und du?»
Er zog den Reißverschluss an seiner Jacke zu. «Ich will einfach ein ruhiges Leben.»
«Tatsächlich? Das geht aber den wenigsten so.»
Ich dachte an Libby, die ihr ruhiges Leben mit Bob eigentlich gar nicht wollte. Und an mich. Vielleicht hatte ich ja im Grunde auch immer nur ein ruhiges Leben gewollt und war genau deshalb nicht gleich wieder nach London geflüchtet, nachdem ich einen solchen
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