Das Ende der Geschichten (German Edition)
verhungert. Ein Beleg dafür, wie paradox der Verstand sein kann.»
Ich musste an die Frau denken, die nicht mehr vor die Tür gehen wollte, seit sie die Bestie im Garten gesehen hatte. Würde sie auch verhungern? Und falls ja, hatte sie dann zu rational oder zu irrational gehandelt?
«Oh, da fällt mir noch ein besseres Beispiel ein.» Ich versuchte, mich zu erinnern, wo ich es gelesen hatte. «Ursprünglich stammt es von Thomas von Aquin. Er fragte sich, was wohl passieren würde, wenn Gott eine umfassende Auferstehung veranlasst, also alle Menschen, die jemals gelebt haben, gleichzeitig wieder zum Leben erweckt. Was geschieht dann mit den Kannibalen und den Menschen, die sie gefressen haben? Die kann man gar nicht gleichzeitig wieder zum Leben erwecken, weil die Kannibalen ja aus den von ihnen Gefressenen bestehen. Man kann entweder die einen oder die anderen haben. Ha!» Ich sah Rowan an. «Das ist doch mal ein richtig gutes Beispiel für ein Paradoxon.»
«Rowan kennt ein paar gute Geschichten über echte Kannibalen», warf Bob ein, doch Rowan schwieg.
Conrad strich sich beredt den Bart als Reaktion auf meine Thomas-von-Aquin-Geschichte, und so wartete Rowan wie alle anderen am Tisch erst einmal ab, was Bobs Vater sagen würde.
«Das ist wirklich mal eine interessante Knacknuss», meinte Conrad schließlich. «Aquin spitzt die Problematik zu, indem er die Kannibalen als Beispiel nimmt, aber in Wahrheit besteht doch alles aus allem anderen. Jedes Boot, das ich baue, war zuvor ein Baum, mehrere Bäume sogar, und vielleicht auch einmal ein Meteorit, Eisenerz, Pflanzenfasern und so weiter. Man kann nun mal nicht alles auf einmal haben. Ich glaube, da hat dieses Paradoxon seinen Ursprung.»
Libby lachte. «Meg redet ständig von Kannibalen. Das braucht man gar nicht weiter zu beachten. Wer möchte ein Stück Zitronentarte, bevor wir uns alle hinsetzen und Gitarre spielen, singen und in die Hände klatschen wie die Hippies?»
Recht hatte sie. Als ich noch Veganerin war, hatte ich tatsächlich ständig von Kannibalen geredet. Als ich noch Veganerin war, fragten die Leute mich aber auch ständig, ob ich denn glaube, nur Tiere empfänden Schmerz und Pflanzen nicht, und was ich denn tun würde, wenn ich eine Fliege verschluckte oder mit einem Flugzeug abstürzte und im Dschungel nur überleben konnte, indem ich Leichenteile und Insekten aß. Ich reagierte darauf immer mit der Gegenfrage, warum es denn in Ordnung sei, beispielsweise ein Schwein zu essen, das über die Intelligenz eines dreijährigen Kindes verfügte, aber ganz und gar nicht in Ordnung, das dreijährige Kind zu essen. Mit dem Fleischessen hatte ich aufgehört, als B. noch ein Welpe war und ich ihr irgendwann gedankenverloren das Bein kraulte. Da überfiel mich plötzlich die erschreckende Erkenntnis, dass es sich genauso anfühlte wie rohes Fleisch. Es war nicht viel anders als die Hähnchenschenkel, die man im Supermarkt kaufen konnte. B. kannte damals schon ihren eigenen Namen und noch etwa zwanzig andere Wörter und hatte bereits einen erklärten Lieblingsball. Wenn ich Tom Waits auflegte, kugelte sie über den Fußboden, bei Bob Dylan hingegen lief sie aus dem Zimmer. Sie war kein Lebensmittel; sie war meine Freundin. Damals wusste ich, dass ich nie wieder fähig sein würde, das Fleisch eines Säugetiers zu mir zu nehmen. Allerdings aß ich noch eine Zeit lang Fisch, was ich dann aber auch aufgab. Wenig später rezensierte ich ein Buch, dem zufolge ein Vegetarismus, wie ich ihn praktizierte, vollkommen sinnlos war. Was brachte es schon, auf das Fleisch von Tieren zu verzichten, wenn man die Nebenprodukte der Fleischindustrie, beispielsweise Käse und Milch, auch weiterhin aß? Wie konnte überhaupt noch irgendjemand Milch trinken, die doch eigentlich für die süßen kleinen Kälbchen bestimmt war, die im Frühling auf den Weiden in der Sonne lagen und später zu Kalbfleisch verarbeitet, vergast oder verbrannt wurden, nur damit wir Menschen an ihre Milch kamen? Das überzeugte mich so sehr, dass ich mich anschließend nur noch von pflanzlichen Produkten ernährte, hauptsächlich von Hummus, dunkler Schokolade und Chips mit Salz-und-Essig-Geschmack. Zwei Jahre lang hielt ich durch, dann machten sich die ersten Abnutzungserscheinungen bemerkbar. Und am Ende war es doch leichter, an die Märchen der allgemeinen Konsensrealität zu glauben, in denen Bauernhoftiere nichts weiter waren als die glücklichen Darstellungen auf den Packungen, und die
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