Das Ende der Geschichten (German Edition)
Wahrheit zu ignorieren. Ich aß weiterhin keine Säugetiere und mied Milchprodukte, wo immer es ging, aber ich dachte nicht mehr so viel über die Gründe dafür nach.
Libby stellte die Zitronentarte auf den Tisch und schnitt sie an.
«Jetzt weiß ich wieder, wo ich das mit Thomas von Aquin gelesen habe», sagte ich. «In diesem durchgeknallten Buch über das Überleben am Ende der Zeit.»
Conrad lachte. «Wie überlebt man denn das Ende der Zeit?»
«Man wartet ab, bis das Universum in sich zusammenbricht, und dann schaltet man genau in dem Moment, in dem sich alle existente Materie bis ins Unendliche verdichtet, eine Computersimulation und nutzt diese unendliche Energie dazu, ein neues, unendliches Universum zu simulieren. Ein Jenseits, das niemals enden wird. Hübsche Idee, aber auch ziemlich unheimlich.»
«Ich hatte letzte Woche einen schrecklichen Albtraum, nachdem du mir das erzählt hast», sagte Libby.
«Es ist ja auch ein schrecklicher Albtraum», erwiderte ich.
«Aber so schlecht ist das doch gar nicht», meinte Sascha. «Ich würde gerne ewig leben.»
«Ich nicht», erklärte Rowan.
«Es ist seltsam, wenn man mal anfängt, sich zu überlegen, was ‹ewig› eigentlich alles beinhaltet», sagte ich. «Dieses Buch, das ich da gelesen habe, beziehungsweise die Bücher – der Autor hat bisher zwei geschrieben … Sie versuchen, die Vorstellung von einem solchen Post-Universum zu entwerfen und davon, wie es vom Omegapunkt kontrolliert wird, diesem Augenblick endloser Energie, der zu einer Art Gott wird. Wie wäre ein solcher ‹Himmel› eingerichtet? Am Ende erklärt der Autor uns aber nur, dass wir alle erst mal tausend Jahre lang als Helden leben müssen, bevor wir überhaupt in diesen Himmel kommen. Das ist alles ziemlich kompliziert und gleichzeitig sehr verstörend.»
«Ich glaube, man kann sich den Himmel gar nicht vorstellen», meinte Libby. «Welchen Sinn hätte er denn dann noch?»
«Hört, hört», bemerkte Conrad.
«Aber wenn man weiß, dass man bis in alle Ewigkeit weiterleben wird, immer mit demselben Bewusstsein», sagte ich, «dann kann man sich so einiges vorstellen, und das wird dann schnell sehr unerfreulich. Deswegen führt der Autor wahrscheinlich auch diese Frist von tausend Jahren ein, bevor man mit der Gottesgestalt, dem Omegapunkt, verschmilzt. Wenn man die Ewigkeit bewusst wahrnimmt, wird man am Ende wahrscheinlich ohnehin selbst zum Gott, weil man alles und alle erlebt hat …»
«Man wäre omnipotent», sagte Rowan. «Man wäre in der Lage, alles zu wissen. Nichts wäre mehr unmöglich.»
«Und man könnte immer wieder neu anfangen und das Leben eines jeden Menschen leben, der man gerade sein will.» Ich sah Rowan einen Augenblick lang in die Augen. «Man könnte herausfinden, was die Menschen um einen herum wirklich gedacht haben, als man noch lebte, auch wenn sie es einem nie gesagt haben. Man würde die Wahrheit über alles erfahren. Man würde …»
«Das wäre doch die Hölle», unterbrach mich Mark und schob seinen Teller von sich. «Zumindest für manche von uns. Denn man müsste ja erkennen, dass man sein ganzes Leben lang gelogen, betrogen und Menschen, die man liebt, hintergangen hat und dass an irgendeinem Punkt der Ewigkeit – gerne auch gleich am Anfang, wann immer der ist, denn die Ewigkeit ist ja ewig – jeder, den man belogen, und jeder, den man betrogen, und jeder, den man verletzt und hintergangen hat, davon erfahren wird. Man hätte keine Geheimnisse mehr. Alles, was man je gedacht, und alles, was man je getan hat, läge für alle sichtbar da, und den Rest der Ewigkeit verbrächte man allein, weil keiner, dem man je etwas getan hat, noch mit einem zu tun haben will.»
Libby stand auf und ging aus dem Zimmer.
«Das ergibt aber doch keinen Sinn», widersprach ich, während ich gleichzeitig überlegte, ob ich ihr nachgehen sollte.
«Nein», meinte Rowan. «Um die Gedanken eines anderen Menschen zu begreifen, müsste man doch zu diesem Menschen werden. Man müsste sein ganzes Leben leben, von Anfang an, nicht einfach nur mal kurz auf einen Sprung in seinem Bewusstsein vorbeischauen. Und selbst wenn man tatsächlich im Bewusstsein anderer vorbeischauen könnte, hätte man dort all ihre Erinnerungen vor sich, ihre Wünsche und Komplexe. Du hast ja selbst schon gesagt, im Lauf einer Ewigkeit hat man die Möglichkeit, alles zu erfahren, wenn nur genügend Zeit verstreicht. Aber dann wäre man irgendwann auch nicht mehr fähig, irgendwen zu
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