Das Ende der Geschichten (German Edition)
vorstellen. Was willst du trinken?»
«Einen Sauvignon? Aber eigentlich ist es mir egal. Ich muss nur später noch heimfahren. Und natürlich will ich mich darauf konzentrieren können, was Newman zu sagen hat. Wirklich ein Jammer, das mit Milly.»
«Sollen wir dann eine Flasche nehmen? Dann kannst du zwei Gläser trinken und ich etwa drei. Das müsste hinkommen.»
«Ja, gut.»
«Ich bestelle auch gleich was zu essen, wenn ich den Wein hole. Was möchtest du?»
«Eine Pizza mit Extra-Chili und ohne Käse. Danke. Hier hast du Geld.» Ich gab ihm einen Zwanzig-Pfund-Schein. «Und wenn du wiederkommst, habe ich erst mal Neuigkeiten für dich. Anschließend kannst du mir dann deine Theorie von allem erläutern.»
«Sie wird dich umhauen», sagte er. «Es ist eine Theorie des Anti-Helden. Das letzte Detail ist mir klar geworden, als ich am Wochenende diesen Artikel von Vi Hayes in der Zeitung gelesen habe. Und das vorletzte, als ich deinen Artikel las. Ich glaube übrigens, Vi Hayes hat ihn auch gelesen; in gewisser Weise antwortet sie darauf. Ich habe dir den Artikel mitgebracht, falls du ihn nicht gesehen haben solltest. Hier.» Er zog einen Ausdruck der Online-Version aus seiner ledernen Aktentasche und reichte ihn mir. Ich hatte ihn tatsächlich nicht gesehen. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, meine allererste Socke fertig zu stricken und den Besuch in London und meine allerletzte Lektoratssitzung zu verarbeiten.
Als Josh aufstand und zur Theke ging, merkte ich, dass er Aftershave benutzt hatte: Es roch nach Assam-Tee und Zimt. Ich warf einen Blick auf mein Handy. Von Rowan hatte ich seit seinem Besuch bei mir nichts mehr gehört, und auch jetzt war keine Nachricht gekommen. Dann las ich Vis Artikel. Er drehte sich um das, wovon sie bereits seit langem sprach: ihre These von der ‹Geschichte ohne Geschichte›. Sie begann damit, dass sie das Konzept der Geschichte ohne Geschichte zwar benannt und analysiert habe, es aber keineswegs neu sei. Nur sei es in der westlichen Welt in letzter Zeit fast völlig in Vergessenheit geraten. Das Entscheidende an einer Geschichte ohne Geschichte, so Vi, sei das subtile Untergraben der Geschichte innerhalb ihrer eigenen Struktur. So betrachtet sei sie durchaus dem zu vergleichen, was wir als Metafiktion bezeichnen, wenn auch um einiges diffiziler. Sie ähnele nicht so sehr der Schlange, die ihr eigenes Ende – das Ende der Geschichten – verschluckt, sondern nähere sich eher der Schlange an, die sich selbst wieder freigibt. Im Grunde hatte Vi ein Manifest der Geschichte ohne Geschichte verfasst, das auf der These fußte, der Autor oder die Autorin einer solchen Geschichte ohne Geschichte müsse in der Regel ebenso eine Trickster- oder Schelmengestalt sein wie die Figuren, die darin vorkamen. Die Geschichte ohne Geschichte besitzt kein moralisches Zentrum. Ihre Leserschaft soll nicht versuchen, etwas aus ihr zu lernen, sondern sie vielmehr als Rätsel oder Paradoxon betrachten, zu dem es, abgesehen von den falschen, keine Antwort oder Lösung gibt. Von den Lesern wird gar nicht erwartet, dass sie sich in die Geschichte ohne Geschichte ‹hineinziehen› lassen, sondern dass sie im Gegenteil draußen bleiben. Einer der Punkte des Manifests lautete: «Wenn eine Geschichte von einer marmeladekochenden Einsiedlerin handelt, kann das ebenso spannend sein wie die Geschichte eines Helden, der einen Drachen besiegt, nur würde der Verfasser vermutlich versuchen, den Kampf der Einsiedlerin mit ihrer Marmelade nach demselben Muster zu gestalten wie den Kampf des Helden mit seinem Drachen. Die Geschichte ohne Geschichte dagegen würde zeigen, wie die Einsiedlerin Marmelade kocht, während der Held den Drachen besiegt, und hinterher versorgt sie sowohl den Helden als auch den Drachen mit Heilmitteln und erster Hilfe – und Marmelade natürlich – und geht anschließend mit einem Buch zu Bett.»
Wieso ausgerechnet Marmelade? Außer mir kannte Vi sicher niemanden, der Marmelade kochte. Während ich weiterlas, wurde mir klar, dass Josh recht gehabt und Vi meinen Artikel vom Wochenende zuvor tatsächlich gelesen haben musste. Ich musste lächeln. Die Figuren aus den Geschichten ohne Geschichte, schrieb Vi, sorgten sich nicht darum, was sie anzogen, sagten oder taten. Sie seien die Narren, die in unser aller Namen den Schritt in den Abgrund wagten, damit auch wir aus dem einengenden Rahmen des heutigen westlichen Erzählens heraustreten könnten. Sicherlich, fuhr sie
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