Das Ende der Geschichten (German Edition)
fort, benötigten wir doch keine Geschichten, die uns Vorschriften machten, wie wir zu leben hätten, und unser Leben in den Abklatsch von Geschichten verwandelten, sondern im Gegenteil gerade solche, die uns davon abhielten, uns selbst zu fiktionalisieren. Ein Trickster wie Maui offenbare uns den Un-Sinn der Welt. Vielleicht seien die Trickster, mit denen man sich eigentlich nicht identifizieren sollte, letztlich sehr viel spannendere Vorbilder als die Prinzen und Prinzessinnen aus dem Märchen oder die Figuren aus den amerikanischen Sitcoms, die nur dazu dienten, uns das Gefühl zu geben, wir müssten so perfekt sein wie sie. Gegen Ende des Artikels erzählte Vi ein chinesisches Märchen von einem Tiger, der einen Fuchs fängt. Der Fuchs erklärt dem Tiger, er dürfe ihn nicht fressen, denn er, der Fuchs, werde von allen als das mächtigste Tier der Welt verehrt. «Lauf nur ein Weilchen hinter mir», sagt der Fuchs, «dann wirst du sehen, wie hoch die anderen Tiere mich achten.» Der Tiger erklärt sich einverstanden, und gemeinsam machen sie sich auf den Weg. Als die anderen Tiere sehen, wie der wilde Tiger hinter dem Fuchs herläuft, kommen sie zu dem Schluss, dass er tatsächlich das mächtigste Tier der Welt sein muss, und fliehen vor ihm. Der Tiger ist beeindruckt und lässt den Fuchs unbeschadet ziehen.
Am Ende des Artikels kündigte Vi an, sie sei gerade dabei, ein Buch fertigzustellen, das nicht nur die Geschichte ohne Geschichte – ihre Theorie von Volkssagen und Märchen – behandele, sondern auch die Historie ohne Historie, die Fiktion ohne Fiktion, die Romanze ohne Romantik, den beweislosen Beweis und die unsichere Sicherheit. Das ganze Buch sei eine einzige Ablehnung dessen, was Vi als die «totalitären Strukturen der Natur- und Geisteswissenschaften» bezeichnete, und eine Bejahung des Paradoxen in allen Disziplinen. Mir wurde klar, dass alle realistischen Autoren, einschließlich mir, im Grunde versuchten, eine Fiktion ohne Fiktion zu erschaffen: über-authentisch und durchdrungen von so viel emotionaler Wahrheit, dass sie gar nicht mehr wie eine erfundene Geschichte wirkte. Ich dachte an Tschechows Äußerung, man müsse als Autor «totale Objektivität» walten lassen. Damals hatte ich nicht recht begriffen, wie das überhaupt möglich sein sollte. Doch eine Fiktion ohne Fiktion wäre tatsächlich absolut objektiv – sie könnte gar nicht anders.
«Was sind denn das für Neuigkeiten?» Josh kam vom Tresen zurück.
Ich legte den ausgedruckten Artikel auf den Tisch.
«Gute, würde ich meinen. Du bist jetzt ganz offiziell Zeb Ross.»
«Wow! Das ist ja irre! Vielen Dank! Habe ich denn auch irgendeine Behinderung?»
«Ja, die hast du. Ich hoffe, das stresst dich jetzt nicht zu sehr, aber deine ‹Behinderung›, falls man das überhaupt so nennen kann, ist eine Zwangsneurose. Das war totaler Zufall. Sie waren sich schon alle einig, dass das irgendwie romantisch beziehungsweise cool wäre, Zeb aber trotzdem schlüssig davon abhält, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ich muss gestehen, es hat nicht geschadet, als ich ihnen erzählt habe, dass du tatsächlich unter einer Zwangsneurose leidest. Ich hoffe sehr, das macht dir nichts aus.»
«Ich glaube nicht, nein. Dann bist du jetzt also meine Chefin?»
«Nein. Nein, im Gegenteil, ich habe am Freitag bei Orb Books aufgehört. Du bist also auf dich allein gestellt. Fühl dich völlig frei, das Angebot eventuell auch abzulehnen. Es ist allerdings keine schlechte Arbeit, und die Bezahlung ist auch nicht übel.»
«Warum hast du denn aufgehört?»
«Ich möchte mir endlich richtig Zeit für meinen Roman nehmen. Meine …» – ich warf einen Blick auf Vis Artikel – «… ‹Fiktion ohne Fiktion›. Außerdem habe ich eine neue Aufgabe bei der Zeitung, sodass ich die Genreliteratur ganz aufgeben kann, zumindest eine Zeit lang. Ich denke, das wird mir guttun. Anders als Kelsey Newman glaube ich nämlich nicht, dass wir alle unsterblich sind, und würde gern etwas Sinnvolles tun, solange ich noch lebe. Und zwar nicht, weil ich damit in eine andere Dimension vordringen will, sondern weil es vermutlich meine einzige Chance sein dürfte. Damit will ich Zeb Ross gar nicht kleinreden, und ich bin wirklich überzeugt, dass es dir Spaß machen wird, ihn darzustellen. Aber ich habe vorläufig mal genug davon.»
«Dann ist es für dich also vorbei mit den Narrationsbögen in Torquay?»
«Sieht so aus.»
«Wirst du dich auch vom Drei-Akt-Modell
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