Das Ende der Geschichten (German Edition)
abwenden?»
«Keine Ahnung. Kann sein.» Ich seufzte und trank dann einen Schluck Wein. «Weißt du, ich begreife einfach nicht, wieso Vi etwas für den Klappentext von Kelsey Newmans Buch geliefert hat, wo sie es doch so offensichtlich ablehnt. Das ist mir ein Rätsel.»
«Ein Rätsel, das sich nachher aufklären dürfte. Oder auch sofort, wenn du willst.»
«Hä?»
«Vi Hayes kommt auch zu Kelsey Newmans Vortrag. Sie will ihn persönlich zur Rede stellen.»
«Zur Rede stellen? Weswegen denn? Und woher weißt du das überhaupt?»
«Ich habe sie gegoogelt. Seit du mir die Zweitwelt geliehen hast, habe ich es wieder und wieder gelesen. Und die ganze Zeit ging mir das Zitat von ihr nicht aus dem Kopf. Und als ich dann ihren Artikel in der Zeitung gesehen habe, der genau das Gegenteil von dem behauptet, was Kelsey Newman meint, habe ich ihr gemailt, um sie zu fragen, warum sie sein Buch auf dem Klappentext so lobt und es gleichzeitig in ihrem Artikel als Beispiel für schlechte Erzähltheorie heranzieht. Ich habe ihr geschrieben, dass ich dich kenne, das macht dir hoffentlich nichts aus? Dann hat sie mir geantwortet und erklärt, ihr Zitat sei völlig aus dem Zusammenhang gerissen worden.» Josh zog ein weiteres Blatt aus seiner Aktentasche. «Eigentlich hatte sie dem Verlag nämlich Folgendes geschrieben: ‹Zweifellos werden etliche Menschen glauben, das Buch biete eine Lebensvorlage auf Basis all dessen, was wir aus unseren meistgeliebten Romanen kennen. Aber wir brauchen für unser Leben keine Vorlagen, und aus den meistgeliebten Romanen haben wir im Grunde nur erfahren, dass eine moralische Vormachtstellung vor so ziemlich allem bewahrt und man in dieser Welt hauptsächlich dadurch vorankommt, dass man alles Monströse, Andersartige oder Differente ausmerzt, weil es einem einfach nicht gefällt, und dass man nur so den Schatz und die Prinzessin erbeuten kann – Geld und Sex also. Ich habe die letzten fünfunddreißig Jahre damit zugebracht, Fiktion in ihren unterschiedlichsten Formen zu erforschen: auf pazifischen Inseln, in Russland, in Südamerika und schließlich sogar in der Küche eines Altenheims in Brighton. Dabei habe ich festgestellt, dass die Heldenreise längst kein so universelles Konzept ist, wie Joseph Campbell und neuerdings auch Kelsey Newman glauben. Die Reise des Helden ist im Kern eine Kolonialisierungsreise. Sie ist die Reise des amerikanischen Traums. Es gibt so viele unterschiedliche Erzählungsmuster auf der Welt, und sie handeln eben gerade nicht von überkommenen Helden, die aus eigener Kraft ihr böses Los in ein gutes verwandeln. Natürlich sind zurzeit noch die Stimmen am lautesten, die von solchen Heldenmythen berichten und behaupten, das alles sei seit Anbeginn der Zeit so. Dabei ist die Vorherrschaft dieses überkommenen Geschichtentyps zu diesem historischen Zeitpunkt nur ein kulturelles, keineswegs aber ein wesentliches Faktum. Übrigens ein interessantes Wort – «überkommen». Newman verwendet es recht häufig in seinem Buch, und jedes Mal habe ich es unwillkürlich nicht als Adjektiv gelesen, sondern als Verb, und es auf einen Mann bezogen, der zu viel ejakuliert, in jeder Hinsicht übrigens. Er über-kommt einfach alles. Es gibt auch so schon mehr als genug neoliberale moralisierende Mächte auf der Welt, ohne dass uns auch noch ein Kelsey Newman mit seiner kosmischen Version davon beglückt und die Logik der Globalisierung damit auf eine universelle Ebene hebt.›»
Ich konnte mir das Lachen schon längst nicht mehr verkneifen. «Auf sie mit Gebrüll, Vi», sagte ich.
«Die ist schon ziemlich cool. Ich bin gespannt, wie sie meine Theorie von allem finden wird.»
Ich lächelte ihn an. «Na, dann mal los. Erklär mir, wie dein Universum funktioniert.»
«Nun, es wird dich sicher freuen zu hören, dass wir trotz allem unsterblich sind.»
«Da wäre ich mir mal nicht so sicher.»
«Wart’s ab. Übrigens, ich weiß ja, dass du voll auf das Periodensystem der Elemente abfährst, aber nicht so auf Jung und die Archetypen. Den Teil lasse ich also eventuell weg.»
«Das halte ich schon aus», entgegnete ich. «Außerdem weiß ich deinetwegen inzwischen sehr viel mehr über Archetypen.»
«Wieso denn meinetwegen?»
«Weil ich deinetwegen das falsche Buch rezensiert habe. Und dadurch wiederum bin ich an einen neuen Auftrag gekommen, der mir nicht nur ein oder zwei, sondern gleich sieben Decks Tarotkarten eingebracht hat. Die wimmeln nur so von Archetypen, und zu allen
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