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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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zusteuerten. Trotzdem gelang es mir, Josh zu widerstehen, vorwiegend, weil ich einfach zu viel Angst davor hatte, wie Christopher reagieren würde, wenn wir etwas miteinander anfingen, und versuchte stattdessen, meinen Roman als große Tragödie zu gestalten. Das war eine deprimierende Erfahrung. Mir war klar, dass die meisten Erzählungen aufgehende Gleichungen waren, ein Nullsummen-Spiel, und dass die Tragödie deshalb so besonders war, weil bei ihrer Gleichung mehr herauskam, als man vorher eingab – ich hatte nur einfach keine Ahnung, wie man so schrieb. Der formale Aufbau von König Ödipus war nicht weiter schwierig zu durchschauen, aber wo kamen bloß diese ganzen Gefühle her?
    Einmal hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie es wohl aussehen würde, wenn Zeb Ross Hamlet geschrieben hätte. Zunächst einmal gäbe es keinen Geist. Oder zumindest würde sich dieser Geist am Ende als Halluzination eines verstörten Jugendlichen entpuppen, und mit Unterstützung seiner tapferen kleinen Freundin Ophelia würde Hamlet erkennen, dass sein neuer Stiefvater in Wahrheit gar nicht so abwegig und dumm gehandelt und seinem Vater Gift ins Ohr geträufelt hat, sondern stattdessen sogar versucht hat, ihm das Leben zu retten! Hamlet würde einen Therapeuten aufsuchen – Polonius, der sich ja selbst ein bisschen in der Selbsthilfe-Szene herumtreibt, kann ihm da bestimmt jemanden empfehlen –, seinen Verlust verarbeiten und begreifen, dass es völlig in Ordnung ist, wenn seine Mutter mit ihrem neuen Mann ins Bett geht (vom «geilen Schweiß eines glitschigen Bettes» und solchen ekligen Sachen wäre natürlich nirgendwo die Rede). Anschließend kehrt er glücklich, mit Ophelia im Schlepptau, an die Universität zurück und akzeptiert die Veränderungen in seiner Familie von nun an. Dann wurde mir klar, dass das Ergebnis wahrscheinlich ganz ähnlich aussähe, wenn ich Hamlet geschrieben hätte.
    «Manchmal wünsche ich mir ja, ich hätte Anna Karenina nie gelesen», sagte Libby.
    «Wieso das denn?»
    «Weil der Schluss so vollkommen ist und doch so traurig für Anna. Und wenn ich mir jetzt vorstelle, was mit Mark noch passieren kann, denke ich jedes Mal, dass es tragisch enden muss, weil ich es nicht anders verdient habe und die Geschichte ja ganz offensichtlich in diese Richtung geht. Aber was wäre, wenn wir vielleicht einfach nur zusammen glücklich würden?»
    ***
    Um zehn regnete es immer noch, die Tropfen krochen wie Käfer an den Buntglasfenstern entlang, und B. schnarchte zu meinen Füßen. Libby seufzte oft und schaute immer wieder auf ihr Handy, in der Hoffnung, dass Mark vielleicht eine SMS geschickt hatte, und wir tranken weiterhin Bloody Marys.
    «Was macht denn Christopher?» Libby steckte ihr Handy wieder ein. «Immer noch angefressen?»
    «Wie? Oh, ja, bestimmt. Wann hast du ihn eigentlich das letzte Mal gesehen?»
    «Ach, das war … Das muss bei uns daheim gewesen sein, bei dem Abendessen im Dezember. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, das ist noch gar nicht so lange her.»
    «War er da auch angefressen?»
    «Und wie.» Libby strich sich das Haar aus den Augen. «Worum ging es noch gleich? Ach ja, er hat gedacht, er würde Vorarbeiter bei seinem Bauprojekt werden, aber das hat dann nicht geklappt.»
    «Ach Gott, ja. Das war hart. Und eigentlich hätte er den Job auch kriegen müssen.»
    «Arbeitet er immer noch an dieser Mauer?»
    «Noch zwei Monate, dann ist sie fertig.»
    «Aber er bewirbt sich doch schon, oder? Auf richtige Stellen?»
    «Klar. Die Konkurrenz ist natürlich groß. Aber er wird es schon schaffen.»
    Ich wusste, dass Libby sich insgeheim fragte, warum sich Christopher nicht einfach einen Job suchte, den er schrecklich fand. Das machte schließlich jeder. Sie warf erneut einen Blick auf ihr Handy, verdrehte die Augen und sah mich kopfschüttelnd an.
    «Nichts?», fragte ich.
    «Nichts. Wenn wir Kinder hätten …», setzte sie an.
    «Ich weiß», führte ich den Gedanken fort. «Dann hätten wir gar keine Zeit, uns wegen allem und jedem so viele Gedanken zu machen. Wahrscheinlich wäre das ein Segen.»
    «Es wäre wahrscheinlich ein Unheil. Wir wären bestimmt auch solche Mütter, die total von ihren Sprösslingen besessen sind.»
    «Anstatt total von uns selbst besessen zu sein.»
    Libby griff nach ihrem Handy, warf einen kurzen Blick darauf und legte es dann wieder hin.
    «Übrigens, habe ich dir schon erzählt, dass Mark einen Riesenauftrag bekommen hat?»
    «Wie? Für ein

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