Das Ende der Geschichten (German Edition)
kann keinen Tomatensaft mehr sehen. Meg?»
«Für mich auch. Sehr lieb von dir. Danke.»
Tim holte uns beiden unsere Drinks sowie ein weiteres Guinness für sich und setzte sich dann neben Libby. Er trug ein verwaschenes blaues Rugbyshirt und eine Jeans, die an den Knien schon ganz durchgescheuert war. Tim verbrachte eine Menge Zeit auf den Knien. Er war Handwerker, baute Möbel zusammen und installierte Regale. Er hatte ein zerfurchtes, verlebtes Gesicht, das er der Gartenarbeit und den Wanderungen auf dem Moor verdankte, mit denen er seit Jahren seine Freizeit verbrachte.
Beim Workshop im Jahr zuvor hatten wir fast den ganzen ersten Tag damit verbracht, über Möbel zum Selbstmontieren zu reden. Clare, die bereits wusste, worüber sie schreiben wollte, aber an dem Seminar teilnahm, weil sie noch keine Struktur hatte, stellte Tim alle möglichen Fragen über ungewöhnliche Unfälle beim Heimwerken. Dann merkte jemand an, er habe noch nie verstanden, wie diese Selbstmontageanleitungen funktionierten, und die meisten anderen stimmten ihm zu.
«Dabei sind die doch absolut logisch», erwiderte Tim. «Ich bin natürlich der Letzte, der sich darüber beklagt, dass die meisten Leute sie nicht verstehen. Immerhin verschafft mir das Aufträge. Aber Möbel zum Selbstmontieren sind vermutlich die größte Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts. Alles in einer Packung, außen drauf ein Bild des fertigen Stücks und alles, was man zum Aufbauen braucht, innen drin. Man folgt den einzelnen Schritten, und am Ende hat man ein fertiges Möbelstück.» Er schaute zu mir. «Bitte sagen Sie mir, dass Romanschreiben auch so funktioniert.» Ich schüttelte unter allgemeinem Gelächter den Kopf, sprach aber nicht aus, was ich in dem Moment dachte: nämlich dass das Schreiben von Zeb-Ross-Romanen tatsächlich genau so war, wenn man es einmal raushatte. Und meinen nächsten Gedanken wollte ich mir kaum selber eingestehen: Meine Newtopia-Romane und alles, was ich sonst bisher geschrieben habe, sind auch solche Möbel zum Selbstmontieren; ich habe nichts weiter getan, als die Teile genau in der Reihenfolge zusammenzuschrauben, die alle Welt erwartet. Praktisch alle, die jene Woche mit mir im Hotel in Torquay verbrachten, gingen von der Annahme aus, dass sämtliche Romane gewissermaßen gleichwertig waren und ihren Verfassern den gleichen Aufwand abverlangten – und dass Tolstoi genauso «Schriftsteller» war wie die Autorin des neuesten Frauenromans. Jedes Mal gab es jemanden, der mit bewundernder Stimme fragte: «Wie schafft man es bloß, dreihundert Seiten zu schreiben?» Und ich antwortete jedes Mal, dass dreihundert Seiten gar nicht viel seien und man das, wenn man nur wollte und die Poetik des Aristoteles als Gebrauchsanleitung verwendete, auch an acht Wochenenden schaffen könne. Das Schwierige war, dafür zu sorgen, dass die dreihundert Seiten auch etwas taugten: dass sie wirklich etwas Bedeutendes wurden. Doch über Bedeutung brauchte ich bei den Orb-Books-Workshops gar nicht zu reden, deshalb erzählte ich stattdessen von in sich geschlossenen Handlungsstrukturen und davon, wie schwierig es sein konnte, die dreihundert Seiten so zusammenhängend zu gestalten, wie Aristoteles es vorsah: als deterministische Handlungsstruktur in drei Akten. Was er über die Dichtkunst als Nachahmung des Lebens sagte – als Mittel, das Leben leichter zu durchschauen –, ließ ich bei den Seminaren grundsätzlich unter den Tisch fallen.
«Hey», sagte Tim jetzt zu mir. «Dreimal darfst du raten, was ich an Ostern mache.»
«Was denn?»
«Eine Recherchereise. Ich werde auf dem Dartmoor zelten. Ein neues Zelt habe ich mir schon übers Internet besorgt. Kannst du dir vorstellen, dass die einem heutzutage sogar Zelte nach Hause liefern? Das ist doch unglaublich.»
«Um Ostern rum ist es doch noch eiskalt», meinte Libby. «Das ist dieses Jahr richtig früh.»
«Trotzdem wird das bestimmt ein großer Spaß», sagte ich. «Wer begleitet dich denn?»
«Niemand. Zumindest Heidi nicht. Sie wird sich sicher über die Gelegenheit freuen, ihren Liebhaber einladen zu können.» Mit traurigem Lächeln sah er Libby an. «Meine Frau hat eine Affäre. Da mache ich es ihr manchmal gern ein bisschen leicht und verreise, damit sie das Haus für sich hat. Wahrscheinlich ist das so eine Art Kompromiss. Das, was alte Paare im Lokalteil dann später als Geheimnis ihres fünfzigjährigen Eheglücks bezeichnen.» Er zuckte die Achseln und trank einen Schluck
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