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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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haben wir auch keinen mehr, und dann kriege ich PMS und werfe mich vor den Zug. Total Anna Karenina . Vielleicht bin ich ja eine tragische Heldin. Aber ich wette, das zählt nicht. Da sollte ich mich doch lieber gleich jetzt vor den Zug werfen und es hinter mich bringen.»
    «Nach der Logik müssten wir uns ja alle sofort umbringen. Im Übrigen glaube ich nicht, dass Tolstoi andeuten wollte, Anna hätte PMS.» Vor zwei Jahren hatte ich Libby Anna Karenina zum Geburtstag geschenkt und mich gefragt, ob ihr das wohl gefallen würde, weil sie sonst nur diese schrecklichen SciFi-, Fantasy- und Horrorromane las. Aber sie hatte es bereits zwei Mal verschlungen und kam immer wieder mit neuen Interpretationen daher.
    «Im Ernst, Meg, das ist so was von PMS. Du solltest es nochmal lesen. Sie ist gereizt und ‹sinnlos eifersüchtig›. Sie kann keinen Farbgeruch ertragen. Und dann diese ganze Szene, als sie zum Bahnhof fährt, dass ihr alles und jeder zuwider ist und sie das Verlangen mit ‹schmutzigem Eis› vergleicht. Erzähl mir nicht, dass du dich kurz vor der Periode nicht auch so fühlst. Aber egal, falls dieser Newman recht hat, könnte ich hinterher ganz neu anfangen, wenn ich mich jetzt vor den Zug werfe, als unbeschriebenes Blatt. Neues Leben, neues Unglück. Vielleicht würde ich es ja hinkriegen, wenn ich nochmal ganz von vorn anfange.»
    «Apropos, gestern hat mich meine Mutter angerufen und mir das Neueste von Rosa erzählt. Sie soll Anna Karenina spielen, in einem ganz großen Hollywood-Blockbuster. Vielleicht sollte ich ihr das mit dem PMS mal mailen.»
    «Keine Sorge», meinte Libby. «Das wird garantiert ein Riesenflop.»
    «Ach, ich will gar nicht unbedingt, dass es ein Flop wird. Aber warum muss es ausgerechnet mein Lieblingsbuch sein? Meine Mutter denkt, ich wäre neidisch, und wahrscheinlich hat sie recht, obwohl ich gar nicht weiß, wie ich auf etwas neidisch sein soll, was ich ohnehin nicht will. Wer sagt denn, dass die ach so erfolgreiche Rosa besser mit ihrem Leben klarkommt als wir anderen? Ihr Bruder ist Buchhalter bei einer Wohltätigkeitsorganisation, und ich wette, um den macht kein Mensch so ein großes Trara. Aber trotzdem kriegt er sein Leben auf seine stille Art vielleicht viel besser hin. Wie soll man das wissen? Mir jedenfalls ist es ein absolutes Rätsel, wie man alles richtig macht.»
    «Anna Karenina zumindest hat es nicht geschafft.»
    «Ach nein?» Ich zog eine Augenbraue hoch.
    «Was willst du damit sagen? Inwiefern hat sie denn alles richtig gemacht?»
    «So genau kann ich dir das auch nicht sagen», meinte ich. «Aber sie sieht immerhin das Licht. Zumindest sieht sie es kurz vor ihrem Tod. Ihre Leidenschaft verleiht ihr eine Art Klarsicht, die keine der anderen Figuren hat. Aber anschließend wird es natürlich für immer dunkel.» Ich trank noch einen Schluck Bloody Mary. «Mein Gott, ich möchte wirklich nicht mit Rosa tauschen und das spielen müssen.» Oder mit mir selber und versuchen müssen, etwas zu schreiben, das nur halb so viel Tiefgang und Kraft hätte.
    Zum ersten Mal hatte ich Anna Karenina während des Studiums gelesen. Etwa drei Jahre nach unserem Umzug nach Devon, als ich gerade ein bisschen in Christophers Bruder Josh verschossen war, las ich es noch einmal. Ich dachte, es würde mir vielleicht eine Warnung sein. Josh war gerade achtundzwanzig geworden und fand einfach keine Freundin. Ständig erzählte er mir, wie großartig alles wäre, wenn er bloß eine Frau wie mich fände, die Gitarre spielte, Spaß daran hatte, im Park ein bisschen kicken zu gehen, und Bücher las. «Ich brauche eine Autorin», verkündete er, worauf ich ihm auseinandersetzte, dass die meisten Autorinnen Eigenbrötlerinnen seien, die sich nie auch nur irgendwie körperlich betätigten. Ich fand, für ihn wäre eine Yogalehrerin am besten oder eine Frau, die sich gerade ein Jahr Auszeit gönnte. Er war damals viel bei uns, und es war schön, jemanden zu haben, der bestätigen konnte, dass Christopher während der letzten vierundzwanzig Stunden tatsächlich kaum ein Wort gesagt hatte, dass er tatsächlich übertrieben auf die umgekippte Teetasse reagierte und tatsächlich häufig anderer Ansicht war, wenn ich eine Meinung äußerte, aber völlig einverstanden, wenn im Fernsehen jemand dasselbe sagte. Wo Christopher launisch und irrational wurde, da war Josh hochgradig rational oder sogar hyperrational. Er hatte immer ein Maßband dabei – hauptsächlich, weil er kein Buch kaufen konnte,

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