Das Ende der Geschichten (German Edition)
das nicht genauso groß war wie seine anderen Bücher, aber auch, damit er Wände und Türöffnungen ausmessen konnte, wenn gerade keiner hinsah, um «einfach nur zu wissen», wie hoch oder breit sie waren. Einmal erzählte er mir, dass er beim Händewaschen immer bis zweiunddreißig zählen musste. Verzählte er sich oder drehte er den Wasserhahn nicht rechtzeitig zu, musste er noch einmal von vorne anfangen. Wenn er sich einen Tee machte, drückte er den Beutel genau acht Mal über der Tasse aus. Er trug immer eine gerade Anzahl von Kleidungsstücken. Wenn er ein Buch las, konnte er die Lektüre nicht auf Seite 6, 15 oder 23 unterbrechen, weil das böse Zahlen waren. Die Seiten 13 und 36 las er gar nicht erst, meinte aber, dass er dadurch normalerweise nicht viel versäumte. Früher hatte er auch keine Seiten mit Primzahlen lesen können, aber damit hatte er grundsätzlich den Anfang eines Buches verpasst, und so hatte er sich das abgewöhnt.
Ich war überzeugt, dass Josh schon als Kind unter seiner Zwangsneurose gelitten haben musste, vor allem, seit er mir erzählt hatte, dass er auf eine Waldorfschule wechseln musste, weil ihm im normalen Matheunterricht von der Kreiszahl Pi immer schlecht geworden sei. Doch seine Familie war der Ansicht, es hätte erst nach dem Tod seiner Mutter richtig angefangen. Einmal fand ich ihn erschöpft und den Tränen nahe in seinem Zimmer, wo er immer wieder das Licht an- und ausschaltete. Er habe es schon zwölfhundertmal gemacht, sagte er, müsse aber noch auf fünftausend kommen. Ich konnte ihn nicht zum Aufhören bewegen. Als ich ihn später fragte, was der Grund gewesen sei, erklärte er mir, wenn er es nicht gemacht hätte, wäre jemand gestorben oder schwer krank geworden, vielleicht sein Vater, vielleicht aber auch ich. Es schmeichelte mir, dass er fünftausend Mal das Licht an- und ausgeknipst hatte, nur, um Unheil von mir abzuwenden. Als ich einmal fest davon überzeugt war, es wären Einbrecher im Haus, hatte Christopher sich strikt geweigert, das Licht auch nur ein einziges Mal anzumachen. Im Übrigen glaubte Josh keineswegs, dass «Gott» oder eine vergleichbare Instanz seinem Vater oder mir Schaden zufügen wolle, sondern vielmehr ein komplexes Netzwerk aus Energie und einer Art kosmischem Kontrollsystem. Er hatte die Schwingung empfangen, dass etwas Schreckliches passieren würde, und das Ein- und Ausschalten des Lichts gab ihm die Möglichkeit, seine eigene Energie entsprechend zu bündeln, um dieses Schreckliche abzuwehren. Als Junge war er ein hochbegabter Fußballspieler gewesen und ausgewählt worden, für die Kindermannschaft eines Londoner Clubs zu spielen. Doch seine Mutter war nicht einverstanden, dass er so weit weg von zu Hause wohnen und Profi-Fußballer werden sollte; sie wollte einen Autor oder Maler aus ihm machen. Seit ich ihn kannte, war er arbeitslos, weil er einfach nicht stabil genug für eine feste Stelle war. Ich hatte mich in die Phantasie verstrickt, ihn irgendwie retten zu können, und so verbrachten wir recht viel Zeit miteinander.
Als ich Anna Karenina erneut las, hatte ich gerade auch angefangen, mich ganz allgemein für die Tragödie zu interessieren. Bei meinen Workshops arbeitete ich mit König Ödipus von Sophokles, weil sich unser Schlüsseltext, die Poetik des Aristoteles, ständig darauf bezog. König Ödipus ist fast schon ein Paradebeispiel für eine deterministische, auf Ursache und Wirkung basierende Handlungsstruktur, bei der Y nur geschehen kann, weil zuvor X stattgefunden hat, und entsprechend setzte ich das Stück auch ein. Doch immer wenn ich es las, war ich von neuem erstaunt darüber, dass ein Text noch so viel mehr leisten konnte, als einfach nur eine gut konstruierte Geschichte mit Anfang, Mitte und Schluss zu erzählen, wie ich es meinen Workshopteilnehmern beibrachte und wie ich es selbst auch immer gemacht hatte. König Ödipus schaffte es irgendwie, ein grundlegendes Rätsel des menschlichen Daseins abzuhandeln. Bei Anna Karenina war es nicht anders. Und auch nicht bei Hamlet . Ich las Nietzsches Abhandlung über die Tragödie, und eine Zeit lang verschlimmerte das die Situation mit Josh, weil ich anfing, mich als tragische Heldin zu sehen, die nichts mehr zu verlieren hatte. In der Tragödie lebten die Leute schließlich auch nicht auf ewig glücklich und zufrieden in ihrem prosaischen Heim, sondern gelangten über das Rationale hinaus zu einem ganz neuen Wissen, auch wenn sie dabei auf den sicheren Tod
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