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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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und habe meinen Schlüsselbund verloren. Das ist schon mal schlimm. Um es noch schlimmer zu machen, wurde ich von einer Bande Männer vergewaltigt, als ich nach dem Schlüssel gesucht habe. Und jetzt leide ich unter Gedächtnisverlust, und die Typen haben dich entführt, weil du alles gesehen hast, und Bess weiß als Einzige, wo du bist. Sie versucht es Christopher zu sagen, aber –»
    «Viel zu kompliziert. Du musst es einfacher halten. Im Grunde brauchst du doch nur eine Erklärung für den Wagen. Die Geschichte wäre also, dass wir zwei abends unterwegs waren und du deinen Schlüssel verloren hast, was schon mal ein ziemlicher Mist ist. Und anschließend könntest du zusätzlich zu den Schlüsseln auch noch dein Auto verloren haben, was ein noch viel größerer Mist wäre. Womöglich hat ja jemand die Schlüssel gefunden und dein Auto geklaut. Wer kann das schon sagen? Du weißt jedenfalls nur, dass du die Schlüssel verloren hast. Das einzig Dumme an der Sache ist, dass du den Wagen noch hast.»
    Ratter, ratter, ratter. Anscheinend war ich schon ein richtiger Handlungsautomat, darauf programmiert, derartiges Zeug abzusondern. Wenn ich den unerfahreneren Ghostwritern bei Orb Books solche Ratschläge gab, schärfte ich ihnen immer auch ein, dass sie an ihr Projekt glauben und nicht einfach nur die Regeln befolgen sollten. Hatten sie sich dann allerdings zu sehr im Dickicht des Einfallsreichtums verirrt, geleitete ich sie wieder sanft auf den geraden Pfad des Schablonenhaften zurück.
    «Gut. Und wie werden Bob und ich jetzt glücklich bis ans Ende unserer Tage?»
    Ich dachte kurz darüber nach.
    Dann antwortete ich lachend: «Tja, da wirst du wohl den Wagen im Fluss versenken müssen.»
    Libby blieb vielleicht zehn Sekunden lang reglos sitzen, und ihre Hände, die das Lenkrad umklammert hielten, wurden zusehends weißer. Dann stieg sie aus und sah sich um. Es war immer noch kein Mensch am Nordufer zu sehen. Keine Jugendlichen, die versuchten, Boote zu klauen, keine Touristen und keine anderen Spaziergänger mit ihren Hunden. Und auch keine Männer, die nach mir Ausschau hielten. Libby gab einen Laut von sich, der ungefähr so klang wie B.s Winseln vorher.
    «Du hast recht», sagte sie. «Das ist die einzige Möglichkeit.»
    «Lib», erwiderte ich, «das war ein Witz.»
    Sie stieg wieder in den Wagen, wendete in drei planlosen Zügen, bis er mit der Schnauze zum Wasser zeigte, und fuhr ihn dann ganz dicht ans Ufer heran. Einen Moment lang sah es aus, als wollte sie direkt in den Fluss fahren. Ich stand daneben und wusste nicht recht, ob das nur Blödelei war, ob ich lachen oder lieber versuchen sollte, sie davon abzuhalten. Dann stieg sie aus und ging um den Wagen herum. Libby war nicht groß, doch als sie ihren Bizeps anspannte, wurde mir klar, wie viel Kraft sie in den Armen haben musste. Der Wagen rollte; anscheinend hatte sie die Handbremse gelöst. Sie schob ihn noch einmal an, bis die Vorderräder über dem Wasser hingen.
    «Lib», versuchte ich es noch einmal.
    «Ich muss verrückt sein», sagte sie. «Was mache ich da eigentlich?»
    «Gar nichts», meinte ich. «Komm, lass es bleiben. Das ist dann nämlich wirklich schwer zu erklären.»
    Doch Libby beförderte ihren Wagen mit einem letzten Stoß in den Fluss und warf den Schlüsselbund hinterher.
    «Ich kann immer noch sagen, es waren irgendwelche Jugendlichen», erklärte sie über das Gurgeln und Glucksen hinweg. «Die müssen mir auch den Schlüsselbund geklaut haben. Das hört sich vielleicht alles verrückt an, aber kein Mensch wird auf die Idee kommen, dass ich so verzweifelt sein könnte, meinen eigenen Wagen im Fluss zu versenken. Was für einen Grund sollte ich denn haben, so etwas Hirnrissiges zu tun? Meine Fresse. Vielen Dank, Meg. Das war wirklich eine geniale Idee. Ich ruf dich morgen an, falls ich dann noch lebe.»
    Sie warf einen Blick auf die Uhr und eilte am Ufer entlang in Richtung Lemon Cottage davon. Das rote Schultertuch wehte hinter ihr her wie eine Fahne im Wind. Mir fiel eine Zen-Geschichte ein, die von einer Fahne im Wind handelt. Wer bewegt sich? Der Wind oder die Fahne? Zwei Mönche sind mitten im Streit über diese Frage, als ein weiser Mann zu ihnen tritt und sagt: «Der Wind bewegt sich nicht und auch nicht die Fahne. Nur der Geist ist in Bewegung.» Langsam ging ich weiter, und B. beschnüffelte seelenruhig noch einmal alle Bänke, als wäre nichts gewesen. Libby warf keinen Blick mehr zu uns zurück, und ich sah sie immer

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