Das Ende der Geschichten (German Edition)
Lebensabend verbringen, sterben, Romane schreiben oder ganz in Ruhe einen Laden aufmachen wollten. Beruhigung brauchten hier einzig und allein die Kadetten des Royal Naval College, und die würden das Labyrinth kaum jemals betreten. Meine größte Sorge war, dass die Bauarbeiter meinen Lieblingsbaum fällen könnten, deshalb musste ich mich täglich davon überzeugen, ob er noch da war. Der Wind fegte nur so durch den Park, und ich scheuchte B. an der Baustelle mit ihren flatternden Plastikplanen und dem provisorischen Zaun vorbei, warf einen Blick auf meinen Baum und kehrte dann wieder zum Ufer und zur Anlegestelle zurück. Es war ein kalter, grausamer, gehässiger Februar, und ich wollte zurück nach Hause, ins Bett, obwohl es da auch nicht viel wärmer war und mir das Atmen in der feuchten Luft schwerfiel. Auch B. wollte offensichtlich nach Hause, und ich stellte mir vor, wie wir zusammengerollt nebeneinander unter der Bettdecke lagen, beide im Winterschlaf.
Es war immer noch niemand zu sehen. Vielleicht hatte ich mir ja monatelang wegen nichts und wieder nichts den Kopf zerbrochen. Vielleicht kam er ja nicht mehr hierher. Vielleicht war er überhaupt nie hier gewesen.
Weiter flussaufwärts tuckerte ein Schiff der Higher Ferry quer über das Wasser auf Dartmouth zu. Es hatte nur einen Wagen an Bord, der vermutlich Libby gehörte, und seine Lichter tanzten durch die Dämmerung. Auf dem Fluss klimperte es. Ich stand da, wartete auf Libby, betrachtete die vielen Boote und schaute ganz bewusst nicht nach ihm . Als ich dem Klimpern und Klirren der Wasserfahrzeuge lauschte, fragte ich mich, warum das eigentlich so geisterhaft klang. Ich griff in die Innentasche meines Anoraks. Was ich da finden würde, wusste ich: ein Stück Papier mit einer E-Mail-Adresse, die ich längst auswendig wusste, und ein braunes Arzneifläschchen mit einer Pipette. Es enthielt die letzten Reste der Bachblütenmischung, die meine Freundin Vi mir vor einigen Wochen angerührt hatte. Ich hatte die Weihnachtstage mit Vi und ihrem Lebensgefährten Frank in ihrem Ferienhaus in Schottland verbracht, während Christopher in Brighton war. Doch dann war plötzlich alles schiefgegangen, und jetzt redete Vi nicht mehr mit mir. Ganz objektiv betrachtet machte mich das einsamer als je zuvor, aber so schlimm war das nicht, denn ich hatte ja ein Haus, einen Freund und B., und das war schließlich mehr als genug. Außerdem hatte ich die Tropfen, das half auch. Auf dem Etikett war Vis Handschrift gerade noch zu entziffern: Herbstenzian, Stechpalme, Hainbuche, Esskastanie, Waldtrespe und Heckenrose . Ich träufelte mir ein paar Tropfen der Mixtur auf die Zunge, und eine Sekunde lang wurde mir ganz warm.
Kurze Zeit später legte die Fähre an. Mit einem Rums wurde die Rampe ausgeklappt, dann öffnete sich das Tor, und das einzelne Auto fuhr an Land und bog auf den Uferweg ein. Es war tatsächlich Libbys Wagen, und ich winkte. Vor zwei Jahren hatten Libby und ihr Mann Bob ihren schwächelnden Comic-Laden zugemacht und stattdessen Miller’s Deli eröffnet, wo sie alles Mögliche verkauften – unter anderem Rohmilchkäse, Gänseschmalz, Zitronentarte, hausgemachte Salate, Treibholzskulpturen sowie handgestrickte Schals und Decken aus eigener Herstellung und aus der ihrer Freunde. Ich kochte für Miller’s Deli verschiedene Marmeladen, um das Einkommen aus meinen Schreibprojekten ein wenig aufzubessern. An Wintervormittagen ging ich oft früh in den Laden, um mir mein Lieblingsmittagessen zu besorgen: ein halbes Baguette mit eingelegtem Knoblauch und hausgemachter Fischpastete. Libby fuhr langsam, mit offenem Fenster, und ihr Haar wehte wirr im Wind. Als sie mich sah, hielt sie an. Sie trug Jeans, ein enges T-Shirt und darüber ein handgestricktes rotes Schultertuch, als könnte dieser Februar zu ihr niemals grausam sein und als hätte sie niemals eine dicke Brille oder ein weites Sweatshirt mit Siebdrucken von Horrorfilmfiguren angehabt.
«O Mann, Meg. Gott sei Dank. Christopher ist aber nicht hier, oder?»
«Natürlich nicht», erwiderte ich und sah mich um. «Hier ist überhaupt niemand. Wieso? Ist alles in Ordnung mit dir? Frierst du gar nicht?»
«Nein. Zu hoher Adrenalinspiegel. Ich sitze richtig tief in der Scheiße. Kann ich sagen, dass ich bei dir war?»
«Wann denn?»
«Heute. Den ganzen Tag. Und gestern Nacht auch. Bob ist zu früh heimgekommen. Die haben allen Ernstes seinen Flug nach Exeter umgeleitet, weil in Gatwick die Landebahn gefroren
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