Das Ende der Geschichten (German Edition)
mit dem Schiff auch immer gleich die Möglichkeit erfinden, dass es sinkt. Ich argumentiere, dass Vorahnungen absolut rational und nachvollziehbar werden, einfach deshalb, weil die Menschheit das Technologische als das Tragische deutet. Irgendwie wissen alle, dass Technologie stets zum Scheitern verurteilt ist. Diese ganze Hybris. Was als ‹unsinkbar› gilt, ist praktisch dazu verurteilt, irgendwann zu sinken.»
«Wahrscheinlich hast du recht», sagte ich. «Dann hat man also im ersten Akt etwas Großartiges, Glänzendes, Überhebliches. Stimmt. Das muss im dritten Akt sinken oder etwas in der Art, sonst funktioniert die Narration nicht.»
«Aber warum ist das eigentlich so?», fragte Rowan.
Ich zuckte mit den Schultern. «Weil es beim Erzählen um Veränderung geht. Jede Geschichte über einen Erfolg beginnt mit einem Fehlschlag, und umgekehrt gilt das Gleiche. Liebesgeschichten beginnen mit Einsamkeit, Geschichten über Einsamkeit mit Liebe.»
«Aber sind Leben und Erzählen denn das Gleiche?»
Falls ja, befand ich mich dann gerade in einer Liebesgeschichte oder in einer Geschichte über Einsamkeit? Oder in beidem?
Ich lachte. «Na ja, strenggenommen nein. Aber strenggenommen auch ja.»
«Inwiefern …?»
«Na ja, wie du selbst sagst, ist alle Narration ja Simulation. Das Narrative ist Repräsentation oder auch Imitation beziehungsweise Mimesis – es stellt etwas dar, das es nicht ist. Deine Titanic -Vorahnungen sind Narrationen, die scheinbar mit der ‹realen› Narration übereinstimmen. Aber selbst das, was man so ‹wahre Geschichte› nennt, ist von der Definition her nicht identisch mit dem Leben. Nur das Leben ist das Leben. Andererseits wissen wir aber nur das darüber, was auch als Narration existiert. Oder, um es mit Platon zu sagen: Es gibt wahre Geschichten und falsche Geschichten. Zwischen einer Vorahnungsgeschichte über die Titanic und einem echten Bericht darüber besteht wahrscheinlich bis auf den Zeitpunkt und vielleicht noch das eine oder andere Detail kaum ein Unterschied, zumindest nicht aus unserer Sicht, denn ich gehe jetzt mal davon aus, dass keiner von uns beiden die Titanic je gesehen oder jemanden kennengelernt hat, der an Bord war. Für uns ist auch die echte Titanic narrativ, weil alles, was wir über sie wissen, Erzählungen entstammt und nicht der eigenen Erfahrung. Entschuldige, das ist total ins Unreine gesprochen. Aber ich glaube, ich will damit sagen, dass Erzählungen bestimmten Mustern folgen müssen, sonst wären sie ja keine Erzählungen, und obwohl das Leben eigentlich kein Muster braucht, muss es doch eines haben, sobald wir es als Erzählung wiedergeben. Es muss ja Sinn ergeben. Deshalb drücken wir dem Leben ein Muster auf, um es erzählerisch auszudrücken. Wenn wir beispielsweise etwas Schönes erleben, denken wir sofort darüber nach, wie es wohl ausgehen wird.»
«Und was ist mit Gedichten oder Skulpturen? Die sind nicht narrativ, erzählen uns aber trotzdem etwas über das Leben. Das Leben erhält seinen Sinn doch nicht nur durch narrative Gestaltung, oder?»
«Ich würde sagen, dass auch in Gedichten und Skulpturen Narrationen enthalten sind. Man hat ein ‹Fragment› vor sich oder einen ‹Augenblick›, und prompt versucht man, ihn irgendwie in ein Ganzes einzufügen. Etwa so, wie man ein Puzzle zusammensetzt. Warhols Brillo-Boxen funktionieren beispielsweise nur, wenn man aus den Hinweisen, die man erhält, eine Erzählung um sie herum konstruiert. Wenn man sie sich aus der Nähe anschaut, merkt man, dass sie zwar Massenprodukte repräsentieren beziehungsweise abbilden, aber selbst ganz eindeutig keine Massenware sind, weil sie alle unterschiedlich und offensichtlich handbemalt sind. Dann fragt man sich: ‹Wer hat sich da so viel Mühe gemacht? Warum nimmt sich jemand so viel Zeit für diesen Mist?› Und das ist eine dramatische Frage, mit der man Teil der Geschichte wird, denn erst, wenn einem auffällt, dass man sich die Boxen gerade genau anschaut, erkennt man auch, dass man das nicht täte, wenn es tatsächlich Massenprodukte wären, und man die Arbeit eines Künstlers ganz anders bewertet als die eines Fabrikarbeiters. Und man bemerkt, bei wie vielen Dingen man sich gar nicht erst die Mühe macht, sie genauer zu betrachten. Jede Verpackung erzählt ihre Geschichte, doch für uns sind diese Geschichten selbstverständlich, und wir vergessen, sie wieder fremd werden zu lassen. Jedes Problem ist immer auch der Anfang einer Geschichte. Ein
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