Das Ende der Geschichten (German Edition)
Lesestoff von Orb Books. Bei der letzten Lektoratssitzung hatten wir gemeinsam eine grobe Charakterskizze von Zeb Ross erarbeitet, um uns klarer zu werden, wie wir seine Online-Präsentation gestalten wollten. Inzwischen hatte Claudia das Profil zusammengeschrieben, und mir fiel wieder ein, dass wir beschlossen hatten, Zeb zu einem geheimnisvollen Einsiedler zu machen, der zwar im Internet präsent sein, aber nie in einer Zeitschrift, geschweige denn leibhaftig, irgendwo erscheinen sollte. Das wenig detaillierte Kurzporträt auf seinen zahlreichen Websites sollte besagen, dass er dunkles Haar und blaue Augen hatte, etwa mittelgroß war und meistens Jeans und T-Shirt trug. Er hatte ein Jungengymnasium in Nottingham besucht, wo er ein Einzelgänger gewesen war und sich vor allem für Naturwissenschaften und Englisch interessiert hatte. Seine Eltern waren kleine Beamte aus der Vorstadt, die ihn gern bei einer Bank oder einer Versicherung gesehen hätten, doch Zeb hatte andere Pläne. Während der Arbeit in einem Buchladen war er auf die Idee gekommen, dass er doch auch selbst Romane schreiben könnte, und hatte den Plan in die Tat umgesetzt. Am Ende ihrer Mail bat Claudia um weitere Einfälle: Warum lebt Zeb als Einsiedler? Ist er vielleicht irgendwie entstellt? Wenn ja, wie? Können wir ihm einen Unfall andichten? Machen wir Zeb ein bisschen farbiger! Los, Leute, Ideen!
Meine Mittagspause brachte ich damit zu, bei einem Sandwich mit Salat, einer Suppe und einer weiteren Mandarine Zeb Ross zu verunstalten. Ich malte mir aus, wie er in einen Bottich mit Säure fiel, mit seinem Sportwagen verunglückte, von mit Messern bewaffneten Männern überfallen wurde, beim Entschärfen einer Bombe den falschen Draht durchtrennte, durch eine Glasscheibe krachte oder auch zu den wenigen Menschen zählte, die sich just in den Waggon eines Zuges setzten, der dann entgleist, einen Abhang hinunterstürzt und schließlich in Flammen aufgeht, sodass man ihm nur noch entkommen kann, indem man mit dem kleinen Nothammer ein Fenster einschlägt. Ich malte mir aus, wie er in Seenot geriet und ertrank. Aber Ertrinken war zu endgültig. Man kann nicht nur ein bisschen ertrinken und hinterher entsprechende Narben als Beweis zurückbehalten. Das geht einfach nicht. Ich stellte mir vor, wie Zeb Schiffbruch erlitt, und dann fragte ich mich, weshalb das Wort «Schiffbruch» in Bezug auf Menschen eigentlich immer Überleben suggeriert: jemanden, der gestrandet und einsam, aber noch am Leben ist.
Nach dem Mittagessen öffnete ich die Reste der letzten Version meines Romans, um nachzusehen, was davon noch zu retten war. Da waren sie: knapp über achtzig Seiten, die mir so vertraut und langweilig vorkamen wie mein eigenes, fahles Spiegelbild an einem Wintermorgen. Den Anfang hatte ich sicher schon mehr als tausend Mal gelesen; zumindest hätte ich ihn auswendig hersagen können. Er war seit zwei Jahren unverändert, doch jetzt war auch seine Zeit gekommen. Ich erstellte eine neue Datei mit denselben Formatierungen wie die alte, dann schrieb ich oben auf die erste Seite NOTIZBUCH . Ich hatte vor, alles noch irgendwie Brauchbare in diese Datei zu kopieren und anschließend Notizbucheinträge drumherum zu bauen, vielleicht sogar den, den ich am Morgen verfasst hatte. Doch nach einer Stunde hatte ich immer noch nichts gefunden, was ich behalten wollte. Das machte mir zu schaffen, und so fing ich stattdessen an, in einer neuen Datei eine Liste anzulegen: Probleme mit dem Roman (auf ein Neues) . Die einzelnen Unterpunkte lauteten: langweilig; keine klare Linie; viel zu selbstverliebt; kann die Protagonistin nicht leiden; viel zu deprimierend; keiner hat irgendein Ziel; keiner macht etwas; es gibt keine Fragen zu klären; es wird zu viel erzählt . Dann fiel mir ein, dass das doch eigentlich kein schlechter Anfang für Notizbuch wäre, also kopierte ich die ganze Liste auf die erste Seite. Ich musste über meine eigene Waghalsigkeit lächeln. Bestimmt hatte noch niemand, nicht einmal der metafiktionalste und postmodernste aller Autoren, einen Roman mit der Auflistung seiner eigenen Schwächen begonnen.
Die Wortzahl des neuen Romans lag damit bei genau vierzig, und ich fühlte mich, als hätte man mir gerade einen Einlauf verpasst. Die nächste Stunde brachte ich damit zu, in meinem realen Notizbuch zu lesen und mir zu überlegen, wie es sich wohl gedruckt ausmachen würde. Dann wurde mir klar, dass der Abschnitt, den ich am Vormittag geschrieben hatte, einen
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