Das Ende der Geschichten (German Edition)
konnte Rowans Wunsch, mit mir zu reden, dann auch nicht gewesen sein. Schließlich hatte er mir immer noch nicht gemailt.
«Das stört mich keineswegs», sagte ich. «Ich überlege sowieso, ob ich die Titanic nicht irgendwie in meinem Roman unterbringen kann. Vielleicht gehe ich von dem Hardy-Gedicht aus oder baue es sogar ein. Für mich läuft es also unter Recherche, mit dir zu reden. Und außerdem ist das doch ein interessantes Gesprächsthema, während wir hier darauf warten, dass wir ertrinken.»
Rowan stemmte sich auf das Sicherheitsgeländer und lehnte sich weit über den Rand. Einen Moment lang glaubte ich, er würde in den Fluss fallen. Seine Füße berührten schon nicht mehr das Deck. Dann drehte er sich um und zog sich noch weiter hoch, bis er auf dem Geländer zu sitzen kam, mit nichts im Rücken als leerem Raum und darunter das Wasser.
«Also gut, in dem Buch … in meinem Buch … geht es ausschließlich um Katastrophen. Vorwiegend natürlich um Schiffbrüche und andere Unfälle auf hoher See, aber als theoretische Grundlage würde ich teilweise doch gern mit Affekt-Konzepten argumentieren und mit der Struktur von Katastrophen. Ich wollte mir ansehen, ob Katastrophen nur einfach so passieren und die Menschen anschließend unglücklich sind oder ob vielleicht doch mehr dahintersteckt. Eventuell läuft die Erzählung ja genau andersrum: Die Menschen sind unglücklich, und dann folgt die Katastrophe. Als ich mit dem Titanic -Kapitel anfing, wollte ich ursprünglich mit dem Philosophen Baudrillard argumentieren, dass es keine Möglichkeit gibt, eine fiktive Katastrophe von einer echten zu unterscheiden. Mein anfänglicher Plan war, mit dem Kapitel die These aufzustellen, dass solche kulturellen Vorahnungen Simulationen sind, eine Art Disneyland für Schiffbrüche, das die Tatsache verschleiert, dass solche Katastrophen ebenso real wie unvermeidlich sind.»
«Mit Baudrillard habe ich mich auch schon beschäftigt», meinte ich. «Die Matrix -Filme sind ja angeblich eine Kinobearbeitung seiner Theorien. Aber er glaubt, dass das nicht funktioniert hat, weil er nämlich im Grunde sagt, dass es keinen Ausweg mehr gibt, wenn alles und jedes nur noch ein Zeichen ist, das auf andere Zeichen verweist; und bei Matrix gibt es einen Ausweg. Ich glaube, so war das ungefähr.»
«Stimmt. Er spricht von Phänomenen wie der Landkarte, die immer detaillierter wird, bis sie sich irgendwann in das verwandelt, was sie abbildet. Es geht um Repräsentationen des Realen und darum, inwiefern das Reale dadurch beeinflusst wird. Wenn man beispielsweise alles fiktionalisiert, wird dann auch alles Fiktion? Wenn man einen falschen Raubüberfall organisiert, wie will man ihn dann in diesem falschen Status halten, wenn die Leute, die man damit erschreckt und die den Überfall für real halten, echte Angst dabei empfinden? Für mich war das eine sehr unvertraute Art, über vertraute Dinge nachzudenken, aber ausgesprochen nützlich. Dann habe ich gelesen, was Paul Virilio über das Desaster schreibt, und herausgefunden, dass ihm zufolge die Katastrophe jedem von Menschen gemachten System quasi von vornherein eingebaut ist. Das brachte mich auf den Gedanken, dass wir bei jeder technologischen Entwicklung nicht nur mit Katastrophen zu rechnen haben, sondern auch mit Vorahnungen einer Katastrophe, und dass sie dadurch eigentlich erst unvermeidbar wird. Ungefähr so wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, nur noch etwas komplizierter.»
Ich steckte ein Stück Mandarine in den Mund. «Das klingt hochinteressant. Willst du eigentlich über Bord fallen?»
Rowan hatte offenbar vergessen, dass er auf der Reling saß. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, dann sah er wieder zu mir. Seine Hände schlossen sich fester um das Geländer, und das hölzerne Armband, das er immer trug – es war aus Teilen des Wracks gemacht, mit dem sein Großvater vor den Galapagos-Inseln Schiffbruch erlitten hatte –, rutschte ihm über das Handgelenk. Er grinste. «Gar keine schlechte Idee.»
«Aber das wäre nun wirklich ein Desaster», sagte ich leise.
Er zuckte die Achseln. «Vielleicht stimmt es ja, dass alles die Katastrophe bereits in sich trägt. Aber mach dir keine Sorgen. Ich halte mich schon fest.»
«Was hat das Ganze denn nun mit dem Tragischen zu tun?», fragte ich.
«Virilio unterscheidet zwischen künstlichen und natürlichen Unfällen. Nach seiner These muss man, wenn man etwas baut wie ein unsinkbares Schiff, zusammen
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