Das Ende der Geschichten (German Edition)
Knoten, der nur dazu dient, gelöst zu werden … Oje, entschuldige. Ich habe sonst auch nie Gelegenheit, über solche Dinge zu reden, außer wenn ich unterrichte, und selbst da kann ich nicht alles sagen, was ich eigentlich will. Genug geschwafelt.»
«Nein, ich finde das hochinteressant. Du sagst also im Grunde, dass in Erzählungen und dadurch auch im Leben jeder Augenblick als Teil einer größeren Narration gedeutet werden kann, in der jeder Erfolg zum Scheitern verurteilt ist und alles Schöne und Strahlende irgendwann in Schutt und Asche liegt, während sämtliche Tellerwäscher zu Millionären werden und anschließend natürlich wieder zu Tellerwäschern – und dass alles immer so weitergeht?»
«Ja, so ungefähr. Aber natürlich nicht zwingend in ein und derselben Geschichte.»
«In dem Fall würde es also stimmen: Vorahnungen sagen keine Ereignisse, sondern Erzählungen voraus. Sie erzählen tragische Geschichten von Umständen, in denen die Tragödie unausweichlich scheint. Und wenn man die beiden Narrationen – die ‹fiktive› und die ‹reale› – dann vergleicht, ähneln sie sich, weil sie eben beide Geschichten sind.»
«Ich würde darauf wetten, dass alle Geschichten, in denen ein Schiff vorkommt, auch irgendein Unglück auf See beinhalten, so wie in allen Tiergeschichten das Tier irgendwann in Gefahr gerät. In einer Erzählung muss aus jedem Gleichgewicht ein Ungleichgewicht werden. Narration impliziert den Übergang von einem Zustand zum anderen: vom Glück zum Unglück und sehr viel häufiger noch vom Unglück zum Glück. Aber es kann auch ein Übergang vom Leben zum Tod sein, vom Kaputten zum Ganzen, vom Wirren zum Verständlichen oder vom Getrennten zur Einheit – was auch immer.»
«Dann ist also jedes Schiff ein Schiffbruch in Wartestellung.»
«Ja. Schließlich wird jedes Schiff irgendwann zerstört, und sei es absichtlich, am Ende seiner Dienstdauer. Aber das Tragische ist deshalb so geheimnisvoll, weil man es nie genau vorhersagen kann. In jeder Tragödie kommt ein Moment, in dem das Unheil noch abzuwenden wäre, und das Spannende ist, sich anzuschauen, warum der Held oder die Heldin diesen Weg nicht wählt. Das ist nicht so leicht auf eine Formel zu bringen. Außerdem haben zwar bestimmt viele Leute das Gefühl, dass ein unsinkbares Schiff einfach sinken muss, weil das eine gute narrative Schablone abgibt, trotzdem fahren aber noch erstaunlich viele mit solchen unsinkbaren Schiffen. Sie glauben eben nicht nur an Schablonen.»
Rowan machte ein Gesicht, als kämen ihm gleich wieder die Tränen. Doch vielleicht lag das ja auch nur an der Wolke, die sich gerade vor die schwächliche Sonne geschoben hatte.
«Dann gibt es solche Vorahnungen also, und gleichzeitig gibt es sie auch wieder nicht?»
«Möglich. Allerdings … Ich weiß zwar nicht, ob das zum Thema passt, aber ich habe mal von einer Studie über Zugunglücke gelesen. Irgendein Forscher hat herausgefunden, dass verunglückte Züge grundsätzlich sehr viel weniger Fahrgäste an Bord haben als andere. Er spekulierte, das könnte daran liegen, dass die Leute den bevorstehenden Unfall auf irgendeine Weise spüren. Außerdem saßen in den am stärksten in Mitleidenschaft gezogenen Waggons auch noch weniger Leute als in den anderen, was ebenfalls für die These sprach. Aber wer weiß schon, wie diese Studie durchgeführt wurde. Sie ist ja selbst auch wieder eine Erzählung.»
«Das klingt aber, als sollte man sich mal näher damit befassen», meinte Rowan. «Wo hast du das denn gelesen?»
«In irgendeinem blöden Buch über übersinnliche Phänomene aus den Siebzigern», antwortete ich. «Wahrscheinlich keine sehr verlässliche Quelle.»
«Ach. Schade. Kannst du mir trotzdem den Titel sagen?»
«Ich glaube, den weiß ich gar nicht mehr. Aber ich kann nachsehen.» Ich aß das letzte Stück Mandarine und warf die Schale in den Fluss. «Ich maile ihn dir.»
«Nein, mach dir keine Umstände», sagte er rasch. «Gib ihn mir einfach, wenn wir uns das nächste Mal treffen. Wenn wir das nächste Mal zusammen in Seenot geraten.»
Ich zuckte die Achseln. «Na gut.»
«Habe ich dir schon mal von dem Spiritisten erzählt, der auch an Bord der Titanic war?», fragte Rowan. Als ich den Kopf schüttelte, fuhr er fort: «W. T. Stead. Anscheinend hat er schon Jahre zuvor Bilder von Ozeandampfern gezeichnet und von seinem eigenen Ertrinkungstod. Und über Schiffsunglücke geschrieben. Es heißt, er habe Frauen und Kindern in die
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