Das Ende der Geschichten (German Edition)
schreibe zu wenig.»
«Du hast doch neulich von kulturellen Vorahnungen gesprochen», sagte ich. «Eigentlich wollte ich noch ein paar Beispiele nachschlagen, weil ich das hochinteressant fand. Aber dann habe ich es vergessen.»
«Nun, das berühmteste stammt von 1898, vierzehn Jahre vor dem Untergang der Titanic , als der Schriftsteller Morgan Robertson einen Roman mit dem Titel Titan veröffentlichte. Der handelt von einem angeblich unsinkbaren Schiff, das auf seiner Jungfernfahrt von einem Eisberg versenkt wird. Die zweieinhalbtausend Passagiere ertrinken alle, weil es nicht genug Rettungsboote gibt, genau wie bei der echten Titanic . Um so etwas haben sie sich einfach nicht gekümmert, weil das Schiff ja als unzerstörbar galt.»
«Und du glaubst, das war keine echte Vorahnung?»
«Nein, natürlich nicht. In meinem Kapitel argumentiere ich dahingehend, dass man als Schriftsteller, der über ein unsinkbares Schiff schreiben will und ihm einen Namen geben muss, wahrscheinlich ganz ähnlich denkt wie jemand, der ein echtes Schiff tauft. Titan , Titanic : Ist doch ganz plausibel, dass sowohl der Autor als auch der Mensch, der für das richtige Schiff einen Namen sucht, in diese Richtung gehen. Und titanic als englisches Wort ist auch vor dem Schiff schon oft benutzt worden und hat jedes Mal etwas Gewaltiges bezeichnet, das am Ende doch überwältigt wird. Byron hat es verwendet, um Rom vor dem Fall zu beschreiben: In the same dust and blackness, and we pass/The skeleton of her Titanic form,/Wrecks of another world, whose ashes still are warm. Und wenn ein solches Schiff sinkt, läuft es doch unterm Strich immer darauf hinaus, dass die Passagiere ertrinken, weil irgendwelche Entscheidungsträger das Schiff tatsächlich für unsinkbar halten, zu wenige Sicherheitsmaßnahmen treffen und nicht für genügend Rettungsboote sorgen. Nichts davon ist sonderlich weit hergeholt. Es handelt sich also nicht um übernatürliche Visionen dessen, was die Zukunft bringt, sondern um eine andere Art von Vorahnung oder Vorhersage, die auf kulturellen Faktoren basiert und auf dem, was man plausiblerweise wissen oder zumindest erraten kann.»
Ich zog eine Mandarine aus der Anoraktasche und fing an, sie zu schälen. «Interessant, dass derjenige, der der echten Titanic ihren Namen gegeben hat, sie ausgerechnet so genannt hat. Darüber habe ich bisher noch nie nachgedacht. Das ist ja fast schon so, als wollte man, dass sie sinkt, oder hätte das zumindest geahnt. Die Titanen wurden ja schließlich auch von den olympischen Göttern besiegt, nicht? Das Wort titanic transportiert also von Anfang an eine Atmosphäre von Tragik und Unheil. Das passt auch zu der Protzerei, von der Hardy schreibt: ‹Fische, mondäugig und bleich,/Stieren auf all das goldene Zeug:/,Wie kam nur so viel Protzerei in unser stilles Reich?'›»
«Darüber wollte ich ohnehin noch mit dir reden», sagte Rowan. «Ich wollte meine Theorie des Tragischen an dir ausprobieren. Stört es dich, wenn ich das einfach jetzt mache? Es sieht ja ganz danach aus, als säßen wir hier noch ein Weilchen fest, und sonst kann ich mit niemandem darüber reden.»
Nicht mal mit Lise? , dachte ich bei mir. Doch eigentlich überraschte mich das nicht, denn offensichtlich sprachen langjährige Lebenspartner nicht miteinander über die Dinge, die sie wirklich beschäftigten. Bob wusste nichts über Libbys Strickarbeiten, und sie wusste kaum, wie viele Saiten eine Gitarre hatte. Und wann immer Taz ein Bild fertiggestellt hatte, sagte meine Mutter, es sei wunderschön, aber so komplex, dass sie es eigentlich gar nicht verstehe. Anscheinend gehörte es zu den vielen kleinen Traurigkeiten des heutigen Lebens, dass es immer jemanden gab, im Büro, auf der anderen Straßenseite oder am anderen Flussufer, der einen in tiefster Seele besser verstand als der eigene Partner. Nicht, dass ich so jemanden gehabt hätte. Früher hatte ich geglaubt, dass Christopher mich in tiefster Seele verstand, doch inzwischen war er da auch längst nicht mehr auf dem Laufenden. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er wusste, wie viele Bücher ich schon veröffentlicht hatte. Aber was redete ich mir da ein? Lise mochte zwar nicht über die Titanic informiert sein, doch dafür wusste sie sicher vieles andere, was an Rowan wichtig war: seine Lieblingsfarbe, seinen zweiten Vornamen, wie er seinen Tee trank, ob er schnarchte und warum sie keine Kinder hatten. Die Liste ließ sich endlos weiterführen. Und so dringend
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