Das Ende der Geschichten (German Edition)
Rettungsboote geholfen, sei dann in den Rauchersalon der Ersten Klasse gegangen, habe sich in ein Buch vertieft und aufs Ertrinken gewartet. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, woher man das so genau wissen will. Mich würde vor allem interessieren, welches Buch er gelesen hat.»
Die Fähre ruckelte ein wenig, und jemand rief: «O Gott!» Halb nach vorn geschleudert von der Bewegung des Schiffs, sprang Rowan vom Geländer. Hätte es in die andere Richtung geruckelt, wäre er wahrscheinlich wirklich in den Fluss gefallen. Ich wollte nach seinem Arm greifen oder nach seiner Hand, doch ich tat es nicht.
«Glaubst du, die Leute, die auf der Titanic zurückgeblieben sind, haben sich auch über andere große Schiffsunglücke und Katastrophentheorien unterhalten, während das Schiff sank?», fragte ich.
Rowan lachte. «Wir zwei sind eben besonders tapfer.»
Da lief ein Zittern durch das Boot, und man hörte Motoren anspringen. Einer der Fährleute kam an Deck und rief: «Krise behoben, Freunde!» Daraufhin stiegen alle wieder in ihre Autos. Rowan und ich waren die Letzten. Fast hätte ich noch etwas über mein Flaschenschiff gesagt, und plötzlich wollte ich dringend ganz schnell einen Termin vereinbaren, um es Rowan zu zeigen; aber ich war mir nicht sicher, ob ich es in den paar Sekunden, die wir brauchten, um zu den Autos zu gelangen, tatsächlich gut hätte erklären können. Stattdessen fragte ich ein wenig atemlos – kurz bevor er in seinen Wagen stieg und ich noch Zeit hatte, genauer darüber nachzudenken –, ob er nicht bald einmal wieder mit mir zu Mittag essen wolle. Er drehte sich um und sah vom Display seines Handys auf.
«Ich glaube, das ist gerade keine so gute Idee», erwiderte er, ohne mich dabei richtig anzusehen. «Tut mir leid.»
***
Ich hatte an diesem Tag eine lange Erledigungsliste abzuarbeiten. Unter anderem wollte ich mit der neuen Fassung meines Romans anfangen, doch dann konnte ich mich erst einmal stundenlang auf gar nichts konzentrieren. Ich hatte mein Notizbuch vor mir, und so, wie sich das wohl für jemanden gehört, der sich selbst als fiktive Figur neu erfinden will, kritzelte ich wie eine Besessene darin herum – als hätte mir jemand eine dieser furchtbaren Aufgaben zum automatischen Schreiben gestellt. Am Ende hatte ich mehrere Seiten gefüllt. Protagonistin fühlt sich von Liebesobjekt zurückgewiesen. Muss als echtes, fassbares, SCHMERZLICHES Gefühl rüberkommen. Durch Handlung darstellen? Aber was für eine? Sie kann ja schlecht den ganzen Tag in der Bibliothek sitzen und heulen. Außerdem … Es liegt eine Art Hoffnung in seiner Zurückweisung, weil er ja ganz offensichtlich etwas für sie empfindet. Was wäre denn sonst so schlimm an einem Mittagessen? Wie reagiert sie also darauf? Vielleicht kritzelt sie einfach nur in ihrem Notizbuch herum. (Haha! Langsam wird dieses Projekt ein bisschen meta-metafiktional …) Protagonistin schreibt lange Liste mit Gründen, warum er sich gar nicht als Liebesobjekt für sie eignet, u.a. zu alt, zu melancholisch und vor allem gebunden. Sie kann nicht fassen, dass er sie tatsächlich abgewiesen hat. Kann er sich das leisten, sie einfach abzuweisen? Wird er überhaupt noch weitere Chancen bekommen? Vielleicht werfen sich ihm ja ständig Frauen an den Hals. Und wahrscheinlich trennt er sich auch nie von seiner Lebensgefährtin, obwohl er sie offensichtlich nicht mehr liebt. Oder er verlässt sie doch und macht dann lange Wanderungen mit grauhaarigen, kunstbegeisterten Witwen aus Kontaktanzeigen, weil die Protagonistin einfach VIEL ZU JUNG ist. Aber irgendwie muss auch die Verbindung rüberkommen, die trotz des Altersunterschieds zwischen ihnen besteht – das, was er mit ihr macht: mit seinen Augen und all den vielen Versprechungen seines Körpers und … Hier hörte ich auf zu schreiben. Ich brachte es einfach nicht fertig, ihn mir anders vorzustellen als mit schwarzem Haar und muskulösen Unterarmen; er stand einfach da in seiner abgetragenen alten Jeans. Vielleicht war es ja besser, wenn im Roman keine Beschreibung seines Äußeren auftauchen würde. So etwas schrieb man ja wahrscheinlich auch nicht in sein Notizbuch, vor allem, wenn man selbst einen Lebensgefährten hatte, der es jederzeit lesen konnte.
Vor der Mittagspause checkte ich meine Orb-Books-Mails und fand dort wie immer keine Nachricht von Vi. Vielleicht hatte sie mir ja an die andere Adresse geschrieben, vielleicht aber auch nicht. Auch so gab es mehr als genug
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