Das Ende der Liebe
um eine unendliche Sehnsucht (die es immer gegeben hat), sondern um die unendlichen Sehnsuchtsmöglichkeiten . Es geht nicht um eine unendliche Erregung, sondern um die unendlichen Erregungsmöglichkeiten . Es geht darum, dass das Psychische sich jetzt unbegrenzt ins Gesellschaftliche übersetzt, weil die Gesellschaft der Psyche unbegrenzte Möglichkeiten bietet. Es geht darum, dass das Gesellschaftliche sich derart ins Psychische übersetzt, dass die Freiheit und Unbegrenztheit der Gesellschaft auch die Psyche über jede Grenze treibt. Der Aufklärung bedarf hier also nicht zuerst die Seele, sondern die Gesellschaft, die der Seele Grund und Spielraum ist. Die Gesellschaft hat die Seele aus ihrer Flasche befreit – und sie ist die Luft, in die sie entweicht.
[63] Und selbst wenn ein Verlust den Anstoß gegeben hat – Verlust der Eltern, Verlust des Geliebten –, so wiederholen sich hier nur die gesellschaftlichen Ursachen.
Denn die freien Menschen haben die Eltern weder im Krieg verloren noch im Kindbett. Die Eltern waren selber freie Menschen. Sie haben ihre Kinder verlassen, um ihre Liebes- und Sexmöglichkeiten zu nutzen. Und auch die Geliebten, von denen die freien Menschen verlassen wurden, waren selber freie Menschen. Auch die Geliebten wollten ihre Liebes- und ihre Sexmöglichkeiten nutzen.
Wenn die Menschen also offen für Neues sind, wie man sagt, so sind sie es wie ein Haus, aus dem vor langer Zeit alle Menschen ausgezogen sind, das seit langer Zeit leer steht, das nicht einmal mehr Fenster und Türen hat, nur leere Laibungen, hinter denen leere Flure, leere Räume liegen. Die freien Menschen sind auf eine furchtbare, totale Weise offen für Neues, offen für jeden, weil sie leer sind, weil jeder, der ihr Inneres einst bewohnt hat, seine Freiheit genutzt hat, also gegangen ist.
Die freien Menschen können nicht einen Geliebten den Platz der Eltern einnehmen lassen, denn der Platz der Eltern ist leer, zugig und feucht, durch Regen und Frost unbewohnbar gemacht. Sie können nicht einen neuen Ort den Platz ihrer Heimat einnehmen lassen, denn der Platz ihrer Heimat ist leer, unbewohnbar. Sie können keine alte Fülle durch eine neue ersetzen. Weil in ihnen nichts und keiner mehr ist, sind sie offen für alle, die vorüberziehen. Sie stellen sich mit jedem ein Leben vor – und leben mit keinem.
Und nicht nur die Ursachen, auch die Symptome sind von dieser Welt. Der Sehnsüchtige richtete einst die Sehnsucht auf den Einen, der vergeben, verboten war. Die Minnesänger wählten eine Dame, eine Unerreichbare, und beteten sie ihr [64] Leben lang an. Allen Schmerz, alle Sehnsucht richteten sie auf diesen einen unerreichbaren Menschen, den sie häufig nicht einmal zu Gesicht bekamen.
Die freien Menschen dagegen richten ihre Sehnsucht auf alle – erreichbaren, sichtbaren, berührbaren – Menschen. Aus Liebeswahn wird erotische Wahllosigkeit. Aus Minnesang wird Sexsucht.
Aber gibt es nicht immer noch die alten Gründe, warum die Liebe scheitert? Dass zwei sich nicht verstehen, nicht zueinander passen, dass aus Liebe Krieg wird, dass es die Art des Einen ist, die den Anderen terrorisiert, und dass es die Art des Anderen ist, sich vom Einen terrorisiert zu fühlen?
Natürlich gibt es diese Gründe weiterhin. Aber sie werden wahrgenommen vor dem Hintergrund dessen, was möglich scheint. Warum mit einem leben, dem es an Verständnis fehlt, wenn es möglich scheint, jemanden mit totalem Verständnis zu finden? Warum mit einem leben, der anders ist, wenn es möglich scheint, einen zu finden, der gleich ist, der in allem zu einem passt? Warum sich terrorisieren lassen, wenn es Unzählige zu geben scheint, die einen nicht terrorisieren würden? Warum Krieg führen, wenn man meint, desertieren zu können?
Es geht also um die Gründe, die jenseits der Psychologie des Einzelnen liegen, jenseits der Dynamik des Paares. Es geht um die Gründe, die der Psychologie des Einzelnen und der Dynamik des Paares plötzlich ein viel größeres Gewicht geben, weil die Menschen jetzt immerzu vergleichen können, vergleichen müssen.
Was geschieht also, wenn die Wahlfreiheit, die die Denker gegen die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen gefordert haben, selbst zur gesellschaftlichen Struktur wird? Was geschieht, [65] wenn die Gesellschaft die Menschen nicht mehr in ihre Schranken, sondern auf ihre Freiheit verweist, wenn die Strukturen nicht mehr Macht organisieren und inszenieren, sondern Möglichkeiten?
Die Liebe beruhte
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