Das Ende der Liebe
auf der Idee der Wahlfreiheit. Aber sie wird unmöglich in einer Gesellschaft, in der die Wahlfreiheit sich durchgesetzt hat, die Freiheit selbst zu einer Struktur geworden ist, die Unendlichkeit zur täglichen Erfahrung.
Die Menschen leben in permanenter Sehnsucht, permanenter Scham, weil sie unbegrenzte Möglichkeiten haben – und doch, notwendig, hinter ihnen zurückbleiben müssen. Sie sind auf einer endlosen Suche nach etwas Besserem, einem Besseren. Einem besseren Ich, einem besseren Du.
[66] DREI
GEFÜHLE, GEDANKEN DER NICHTLIEBE
Das dritte Kapitel: in dem von den Gefühlen der freien Menschen erzählt wird, aus denen die Unmöglichkeit der Liebe besteht; in dem von einer Hoffnung die Rede ist, die nie endet; von Nostalgie bereits in jungen Jahren; von Reue, Enttäuschung und Unzufriedenheit; vom Schmerz, der die freien Menschen zu zerstreuten Menschen macht, vom Gefühl, alles sei Zufall, kein Schicksal, keine Notwendigkeit; von der Überempfindlichkeit gegen eben das, was den Anderen ausmacht, ihn zum Besonderen macht; von einer Allergie aller Sinne, der Wahrnehmung, des Humors; von der Erregung, mit der die freien Menschen die Liebe suchen; von der Liebe, die jedoch die Liebe zu einer Hydra ist, eine Liebe zu Passanten; davon, dass die freien Menschen ihre Gefühle verstehen – als neurotisch und pornografisch; von der Liebe als Krankheit und dem Willen zur Gesundheit; davon, dass die freien Menschen denken, sie könnten viele Gefühle haben, immer wieder neue; tatsächlich jedoch sind die Gefühle, die sie hatten, in sie eingraviert wie Schrift in eine Tafel; von Fantasien, die steril sind, und einer wilden Wirklichkeit
[67] Was ist ein Gefühl? Ein Gefühl ist ein Gedanke, der sich im Körper ausbreitet und, zurückkehrend aus dem Körper, wieder zum Gedanken wird. So ist es mit dem Hass, der Angst, der Freude, einer Traurigkeit, dem Neid, der Hoffnung. Sie sind Gedanken, glückliches oder unglückliches Wissen. Sie breiten sich im Körper aus, dann kehren sie zurück, angereichert um die Körperempfindung, bestätigt durch die Körperwirklichkeit, und werden wieder Gedanke.
Auch das Gehirn ist Körper. Es kann Lust und Schmerz empfinden wie jedes andere Organ, jeder andere Teil des Körpers. Dunkel, wortlos. Als Drücken und Ziehen, Zusammenziehen und Auseinanderfliegen, als Taubheit und Messerstich. Aber das Gehirn empfindet auch in Gedanken. Gedanken sind die ureigenen Empfindungen des Gehirns, seine ganz besonderen Sensationen. Wo die Haut einen Druck spürt, spürt das Gehirn ein Wort. Das Gehirn reagiert auf Reize mit Worten und reizt mit Worten zur Reaktion. Aus heiß wird »heiß«, aus »heiß« wird heiß. Jedes Wort, jeder Gedanke, setzt sich fort in Arme, Beine, Rücken, Magen, Mund und Geschlecht.
Liebe wie Nichtliebe sind durch den Körper zirkulierende Gedanken. Wenn einer meint, er liebe, obwohl seine Gedanken gegen die Liebe seien, sein vernünftiges Denken oder moralisches Denken, so sind tatsächlich nur einige seiner Gedanken gegen die Liebe, andere aber dafür. Vielmehr: Der Mensch glaubt, gegen seine Liebe denken zu müssen , tatsächlich denkt er zu ihren Gunsten. Die Gedanken, die gegen die Liebe sprechen, sind oberflächliche, die Gedanken, die dafür sprechen, aber tiefe – es sind die eigentlichen Gedanken. Umgekehrt: Wenn die eigentlichen Gedanken gegen die Liebe sprechen, kann der Mensch nicht lieben, ist das Gefühl der Liebe, da es doch aus Gedanken besteht, nicht möglich. Zum Beispiel: [68] Kein Mensch kann lieben und zugleich denken, wahrhaftig denken, er habe eine schlechte Wahl getroffen.
Wer von Gefühlen spricht, muss also auch von Gedanken sprechen. Ein furchtbarer Gefühlszustand ist ein furchtbarer Denkzustand.
Die freien Menschen fallen auf durch ihre Hoffnung. Sie sind ruhelos, ständig in Bewegung. Wenn sie kein Ziel haben, blicken sie umher. Wenn sie keinen Weg haben, träumen sie. Sie sitzen im Zug und lesen in einer Zeitschrift. Doch keiner, der den Wagen durchquert, entgeht ihrem Blick. Wenn sie Schritte hören oder das Zischen der Abteiltür, schauen sie auf.
Es könnte der Erhoffte sein.
Sie erblicken den Erhofften immer, auch wenn dieser gar nicht erscheint. Besonders dann. Wie ein Vater, der sein Kind sucht, das Bild seines Kindes beim Suchen ständig vor Augen hat, so haben die Menschen den Erhofften ständig vor Augen. Ihr Blick ist eine Hohlform, eine Leere der Erwartung.
An anderen Orten, wo der Strom der Menschen dicht und chaotisch
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