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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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sich zusammensetzen lässt. Nur darum sehen Menschen Häuser, kein Chaos von Steinen. Darum sehen sie Städte, kein Chaos von Häusern. Darum nehmen sie andere Menschen wahr, kein [98] Chaos aus Bewegungen, Tönen und Organen. Nur darum sehen die Menschen die Unendlichkeit möglicher Partner.
    Die Möglichkeit der Unendlichkeit der Möglichkeiten entsteht auf zwei Weisen. Sie entsteht zunächst indirekt dadurch, dass Zwänge, Regeln und Gewohnheiten wegfallen, also für den Menschen immer mehr Menschen möglich werden, diesen Möglichkeiten immer weniger entgegensteht. Moralische Bindungen und Ortsbindungen lösen sich auf, die Menschen lösen sich aus Moral, Klasse und Raum und kommen in Bewegung – als absolute Möglichkeiten für andere. Erst die Addition der Bewegungen erzeugt die Masse, die Möglichkeit der Unendlichkeit der Möglichkeiten.
    In der zweiten Phase erzeugen die Menschen direkt, mit Absicht, die unendliche Masse. Dies geschieht in einem organisierten, industrialisierten Nacht- und Freizeitleben, in Genussgemeinschaften, Prostitution und Pornografie sowie in der Partnervermittlung über das Internet. Es entsteht ein neuer industrieller Komplex – eine Industrie der Lebens- und Sexualpartnerproduktion. Sie erzeugt unendliche Massen möglicher Partner. Zugleich löst sie die Menschen noch umfassender von ihren Moralen, Klassen, Orten, beseitigt restlos alles Zurückhaltende, macht die Menschen »noch möglicher«.
    Je mehr die Einzelnen zur Möglichkeit für andere werden, umso mehr Einzelne sollen für den Suchenden möglich werden. Denn: die absolute Verfügbarkeit eines Einzelnen besteht ja erst dann, wenn viele Einzelne verfügbar sind. Nur dann bedeutet der Einzelne für andere eine freie Wahl. Eine Tanzfläche, auf der nur ein Mensch tanzt, so ledig und willig dieser auch sei, ein Bordell, in dem nur eine Prostituierte sich anbietet, so »aufgeschlossen für jeden und alles« sie sich zeigte – [99] die Möglichkeit würde von ihrer Alternativlosigkeit in Zwang verwandelt, in Ausschließlichkeit.
    Also muss eine Industrie, die absolute Möglichkeiten schaffen will, unendlich viele schaffen. Die Freiheit zu einem beruht auf der Freiheit zu allen – der großen Zahl, der Unendlichkeit.
    Umgekehrt zieht die Freiheit zu jedem die Freiheit zu allen nach sich; so entsteht das Dilemma der Wahlfreiheit. Die Tür öffnet sich nie nur vor einer – der erwünschten – Möglichkeit, sondern immer vor der gesamten Masse.
    Die Geschichte der Liebe ist die Geschichte eines langen Triumphzugs. Die Liebenden haben sich vom Diktat der Familien befreit und von den Abhängigkeiten, die sie auch zum Selbstzwang zwangen. Die Romantiker hatten ja vor allem kritisiert, dass Menschen freiwillig einen nahmen, den sie nicht liebten, der bloß eine gute Partie war. Schließlich haben die Liebenden sich auch von ihrem Versprechen befreit, einander ewig zu lieben, von der Ehe, die die Freiheit nur einmal zuließ, als Freiheit zur Unfreiheit, als paradoxen Schwur, der die Liebe zur Herzenssache bis jetzt und ab jetzt nicht mehr zur Herzenssache erklärte, sondern zur heiligen Pflicht.
    Scheidung wurde möglich, dann üblich. Auch Kinder sind heute kein zwingender Grund mehr, zusammenzubleiben. Der Liebe steht nichts mehr im Weg. Die Menschen können ein Leben lang ihren Gefühlen folgen, sie sollen es sogar. Jeder Sieg der Liebe war ein Sieg der Wahlfreiheit. Nicht nur der Freiheit von etwas , sondern auch der Freiheit zu etwas . Im gleichen Maße, in dem die Zwänge schwanden, wuchsen auch die Möglichkeiten, die Auswahl an möglichen Partnern.
    Während die Umwälzungen auf dem Gebiet der Freiheit von Zwängen sich in der ausgedehnten Zeit zwischen Romantik und den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts [100] vollzogen, ereignete sich die Revolution auf dem Gebiet der Möglichkeiten gedrängt innerhalb der vergangenen fünfzig Jahre. Zur langsamen Durchsetzung der Liebesheirat kommt plötzlich die Unendlichkeit möglicher Partner.
    Männer mussten nun nicht mehr Zugang haben zu einem Haus, um eingeladen zu werden, vorsprechen zu dürfen. Die Kontaktkreise beschränkten sich nicht mehr auf einige gute Familien einer Gegend. Die Frauen traten aus den Häusern in die Öffentlichkeit. Immer mehr Freizeit war, anders als früher Jagen oder Kaffeeklatsch, geteilte Freizeit. Junge Frauen durften sich ohne Anstandsdame mit Männern treffen. Gemischte, sich der gesellschaftlichen Kontrolle entziehende

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