Das Ende der Liebe
Schutzlosigkeit.
Die Menschen, die ein Opfer der Unendlichkeit werden, werden Opfer ihres Sehens. Sie hören die Unendlichkeit der möglichen Partner nicht, sie tasten und riechen sie nicht. Sie sehen sie.
Durch die Jahrtausende hindurch hatten die Menschen die größte Angst vor dem Sehen. Sie fürchteten Augenlust und Augensucht, die Begierde, die geweckt wird durch den Blick. Sie wussten: Wer sich umdreht, um zu Sehen, bleibt erstarrt vor dem Bild. Die Unschuld, deren Wesen das Unwissen ist, ist für immer verloren. Kein Bild hört im Herzen auf zu sein. Die Vergangenheitsform des Verbes sehen – »Ich sah« – ist sinnlos. Was einer gesehen hat, das sieht er, wird er sein Leben lang vor Augen haben. Ein Mensch, der eine Erfahrung gemacht hat, wird sein Leben lang erfahren bleiben. Die Unendlichkeit der möglichen Partner ist eine irreversible Erfahrung, ein unvergesslicher Anblick.
Lange wandten die Frauen den Blick ab – vom Peinlichen, Schrecklichen, Erregenden. Es war zugleich die Stärke und [106] die Schwäche der Männer, immer hinzusehen . Heute sehen auch die Frauen hin.
Die Angst vor dem Sehen ist verschwunden. Die freien Menschen betreten Räume, schlagen Zeitungen auf, schalten Apparate ein, klicken auf Symbole und sehen hin, ohne Furcht. Sie sagen: »Ich will nur einmal schauen.« Alles wollen sie wenigstens einmal gesehen haben. Als sei das Sehen der Sinn, der das, was er erreicht, am wenigsten ins Innere des Menschen lässt, weniger als Riechen oder Schmecken.
Jeder Schleier gilt den Menschen als prüde. Der sogenannte Sichtschutz ist nur noch bekannt als Schutz vor dem Gesehenwerden, nicht mehr als Schutz vor dem Sehen. Die Kleidung soll alles zeigen, sichtbar machen. Das Internet ist eine Technik, die den Menschen dazu dient, alles zu sehen.
Das Abwenden des Blickes dagegen ist außer Gebrauch gekommen. Keiner hält sich mehr die Augen zu, geht weiter, ohne hinzusehen. Alle wollen sehen. Sie können nicht mehr anders. Die Menschen bewegen sich mit großer Geschwindigkeit durch Städte, Fernsehkanäle, das Internet. Doch in Wahrheit stehen sie still wie Lots Weib, Salzsäulen hinter Sodom. Sie sind gezwungen, ihre erotischen Möglichkeiten – im doppelten Sinn des Wortes – wahrzunehmen.
Bilder – egal welcher Art – treffen fast nie auf Widerstand. Die Menschen führen alles zum Auge, wie das Kleinkind alles zum Mund. Sie nehmen jedes Bild gierig in sich auf. Erst danach kämpfen sie damit, beginnt das Würgen, der vergebliche Versuch, was sie aufgenommen haben, wieder abzustoßen.
Jedes Bild ist ein Trojanisches Pferd. Es scheint als harmlose Gabe, ohne einen anderen Zweck als den, gesehen zu werden, nur als belangloser Teil – und doch birgt es den ganzen Feind. Das ist das Paradox der Möglichkeit: Sie existiert [107] als reine Möglichkeit nur so lange, wie der Mensch sie nicht gesehen hat, er sie nicht kennt. Die gesehene Möglichkeit aber ist schon die halbe Notwendigkeit, auf dem Weg zum Zwang. Die Wahrnehmung einer Möglichkeit ist immer Erkennen und Verwirklichen in einem. Die Möglichkeit wird zur Versuchung, wächst zum Wunsch, dient dem Vergleich. Sie ist in das Innerste des Menschen gedrungen. Geheime Kräfte entschlüpfen jetzt der Möglichkeit, erschlagen die Wachen, öffnen die Tore. Zwischen den Mauern wimmelt jetzt der Feind.
Man lobt die offenen Menschen , nicht die verschlossenen. Dabei hätten nur Letztere in der Freiheit eine Chance. Die freien Menschen aber wollen immer alles wissen, wollen für alles offen sein .
Tatsächlich existieren überhaupt keine verschlossenen Menschen. Kein Sinn verfügt über ein Muschelgehäuse. Bewusstsein und Gedächtnis liegen offen wie Augen und Haut. Die Menschen sind Nackttiere, jede Sekunde erdrückt von der Welt.
Die Freiheit der Information gilt für die freien Menschen nicht mehr. Denn Informationsfreiheit ohne die Freiheit, nicht informiert zu werden, ist Informationszwang. Die Menschen müssten sich Augen und Ohren zuhalten, wenn sie aus der Haustür treten. Sie müssten vergessen können, was sie gesehen haben. Sie müssten ausziehen aus der Welt und aus ihren Köpfen. Denn: wenn die Welt sie gerade nicht informiert, informieren sie sich selbst, informiert sie ihr Kopf, ihr Gedächtnis.
Ein Blinder sagt: »Ich weiß nicht, was schlimmer ist: dass ich nichts mehr sehen kann oder dass ich immer wieder und bis zu meinem Tod sehen muss, was ich bis zu meiner Erblindung [108] gesehen habe. Dem Neuen entzogen, werde ich
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