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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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Vertrauter, im Handumdrehen offenbart wie die Karte beim Kartenspiel. Die Menschen zeigen Haut und Gefühle, Vergangenheit [103] und Zukunft. Sie schauen einander tief ins Dekolleté ihrer Träume.
    Nichts scheint die Menschen mehr zwingend zu trennen. Keine Völker- oder Familienfeindschaft, keine Entfernung zwischen Orten, kein Gebundensein, kein Altersunterschied oder sogenannter kultureller Hintergrund (tatsächlich: die Kultur, einst unüberschreitbar, tritt vom Vordergrund in den Hintergrund der Welt).
    Im Gegenteil, gerade im Anderen, Entfernten leuchten die unbegrenzten Möglichkeiten. Die Menschen weigern sich, anzuerkennen, was einst als Tatsache galt – und heben es damit als Tatsache auf. Die Welt hat den Glauben der Menschen an sie nötig. Wenn die Menschen den Glauben an sie verlieren, löst die Welt sich auf. Das Unüberbrückbare, das überbrückbar scheint und damit überbrückt wird, verschwindet.
    Es entstehen immer mehr Orte, die keine gesellschaftlichen Orte sind, also Orte, wo sich Angehörige einer bestimmten Schicht, einer exklusiven Gruppe sammeln, sondern ungesellschaftliche Orte, Orte sozialer Blindheit. Die Menschen an solchen Orten scheinen keiner Klasse anzugehören, keiner Kultur, sie scheinen kein Alter zu haben, von nichts bestimmt zu sein, mit nichts verbunden, zu nichts verpflichtet.
    Diese Orte mögen Straßen, Cafés, Kulturzentren und Urlaubsorte, Orte des Nachtlebens sein. Sie bilden einen Großteil der öffentlichen Sphäre, doch auch private Orte gehören dazu: Küchen, Schlafzimmer. Beim Besuch der Oper sahen die Menschen einst nur wenige mögliche Partner – doch alle, die sie sahen, waren tatsächlich gesellschaftlich geeignet . Die freien Menschen sehen in der Großstadt und im Internet unendliche Massen möglicher Partner, und alle scheinen geeignet, sind jedenfalls nicht ausgeschlossen aufgrund von Alter, [104] Kultur, Klasse. Die Kultur der Gleichheit stellt dem sehnsüchtigen, erregten Blick alle Menschen als Möglichkeiten dar, keinen mehr als Unmöglichkeit. Das demokratisch legitimierte Begehren kennt kein zu-jung oder zu-alt, keine Fremdheit, keine Klassenschranke.
    Während die Gesellschaft eine Zeitlang in immer kleinere Teile zerfiel, die immer besonderer wurden, hat sich die Entwicklung seit einiger Zeit verkehrt. Tatsächlich waren schon die kleinen Teile, die Gruppen und Stämme (des Punk, der Sadomasochisten), zum heimlichen Hort eines neuen Universalen geworden. Sie hatten alle Klassen, alle Kulturen, alle Alter und Geschlechter in sich aufgenommen, also unsichtbar gemacht. Die Teile waren zu Behältern eines neuen Ganzen geworden. Das Besondere an ihnen war nicht mehr ihr Partikularismus, sondern, im Gegenteil, ihr Universalismus.
    Schließlich verstand sich Techno ausdrücklich nicht mehr als exklusiv, sondern als offen für alle. Dabei war Techno nicht nur offen für alle, sondern angewiesen auf alle. Der Einschluss war Bedingung wie zuvor der Ausschluss. Es ging um die Erzeugung möglichst großer Mengen Tanzender, möglicher Sexual- und Lebenspartner, der unendlichen Masse.
    In den kleinen Teilen entstand eine neue Universalkultur. Doch sie wurde nicht mehr beherrscht von einer Elite, einer Moral, einem Gesetz, sondern sie bestand aus reiner Masse. Ihr Universalismus war Blindheit. Wie beim Blinde-Kuh-Spiel müssen die Menschen die Anderen berühren, um sie zu erfahren. Sie haben sofort Sex, auch weil sie nicht mehr sehen können, wer der Andere ist. Erst nach einigen Tagen oder Jahren können sie das Alter des Anderen ertasten, dessen Klasse und Kultur. Die freien Menschen sind Blinde. Vielmehr: Sie sehen mehr (mögliche Partner) als alle in der Geschichte zuvor, weil sie für das Unmögliche blind geworden sind.
    [105] Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Unendlichkeit und dem Sehen . Das Gehör, der Tastsinn, Riechen und Schmecken konzentrieren sich stets auf einen Gegenstand. Jede Vielfalt wird ihnen zum Mischmasch: zum Stimmengewirr, zum Krempel, in dem die Hand nichts mehr findet. Das Chaos der Düfte verschmilzt zum Parfüm, zu einem Kaufhausgeruch, einem Stadtgeruch, die Vielzahl der Aromen zu einem Geschmack.
    Nur im Sehen bleibt die Vielfalt erhalten, ist Unendlichkeit erfahrbar. Wer sieht, sieht vieles gleichzeitig und kurz hintereinander. Der Sehsinn ist der offenste aller Sinne, doch die Stärke seiner Offenheit ist zugleich sein größter Mangel, seine größte Verletzlichkeit: angeborene Konzentrationsschwäche,

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