Das Ende der Liebe
Jugendgemeinschaften entstanden, ein gemischtes Freizeitleben, eine gemeinsame Arbeitswelt. Die Zusammenballung der Menschen in großen Städten, großen Universitäten, großen Unternehmen, in großen Sälen und Hallen, die Lockerung der Sitten, das Wachsen einer gewerblichen, nicht gesellschaftlich kontrollierten Sphäre der Begegnung, der Kinos, Tanzsäle und Jazzkeller war dabei nur Vorbereitung. Es war vor allem eine Folge der Einwanderung der Frauen in die Gesellschaft, dass die Menschen nun im doppelten Sinne frei wurden, zu wählen: im Sinne der Freiheit von Zwängen und im Sinne einer gigantischen, geschichtlich nie da gewesenen Auswahl möglicher Partner.
Die Trennwand, die Männer und Frauen so lange voneinander fern gehalten hatte, wurde plötzlich weggezogen. Mit einem Mal standen sie sich gegenüber, Auge in Auge, ein Überfluss an Frauen für die Männer, ein Überfluss an Männern für die Frauen, aufgefordert, ihre Wahl zu treffen. Bald darauf trafen auch die Schwulen und Lesben zusammen, wurden zur Masse: Überfluss an Männern für die Männer, Überfluss an Frauen für die Frauen.
[101] Jede Masse ist gekennzeichnet durch die Anzahl ihrer Teilchen und deren Bereitschaft aufeinander zu reagieren, miteinander neue Verbindungen einzugehen.
In der Liebesmasse hat die Auflösung der alten Moral nicht nur die Reaktionsbereitschaft erhöht, sondern auch die Anzahl der Teilchen: Die Frauen traten in die Öffentlichkeit, Menschen verließen ihre Familien, Städte und Länder, und wurden beweglich.
Die Beweglichkeit erhöhte nicht nur die Anzahl, sondern auch die Reaktionsbereitschaft: Menschen, die in Bewegung sind, reagieren schneller und leichter auf Fremde als solche, die nicht in Bewegung sind – sondern gebunden in den örtlichen Netzen von Familie und Freundschaft.
Endlich erhöhen Anzahl und Bereitschaft auch einander. Je mehr Partnermöglichkeiten und -alternativen existieren, umso mehr Menschen wollen ihre Suche niemals einstellen. Und wer sucht, kann auch gefunden werden; ist selbst eine Möglichkeit. So entsteht die unendliche Masse, die kritische Masse der Liebe.
Frauen und Männer standen früher nur höchstens ein paar Jahre zur Wahl, die Frauen sobald sie einen Frauenkörper hatten, die Männer, sobald sie sich eine Existenz geschaffen hatten.
Heute liegen, bei Männern wie Frauen, zwischen Beginn des sogenannten Liebeslebens und Gründung einer Familie nicht selten zwanzig Jahre. Eine Ewigkeit der Verfügbarkeit. Ein halbes Leben, das der Mensch verbringt mit Begegnungen und Alleinsein, mit der Suche, immer wieder, nach einem Partner, mit Affären und Beziehungen, die kaum mehr zusammenhält als die Liebe, meist weniger noch, ein Einvernehmen, ein Sommer, eine Reise, deren Dauer zwischen einigen Tagen und ein paar Jahren schwankt. Ein halbes Leben, [102] in dem der Mensch – gleichgültig, wie er selbst empfindet – für die Anderen eine Möglichkeit bleibt. Nicht unwiderruflich gebunden, von keinem Tabu belegt. Auch wer kein Single ist, wird wie einer wahrgenommen.
Davon bleibt die andere Hälfte des Lebens naturgemäß nicht unberührt. Die Menschen sind für immer unfähig, in einem Anderen keine Möglichkeit zu sehen.
Die Wahrnehmung fremder Menschen hat sich grundlegend verändert. Vergleichbar ist das mit der Veränderung zu Beginn der Zivilisation, als nicht mehr alle Fremden vorsichtshalber für Feinde und Räuber gehalten wurden, sondern für Mitbürger und Mitmenschen. Jetzt ist die Distanz weiter geschrumpft. Aus Mitbürgerschaft wurde ein universaler Erotismus – der Andere von einer Unmöglichkeit, die sich als Möglichkeit erst erweisen musste, zu einer Möglichkeit, die sich erst als Unmöglichkeit erweisen muss.
Einst bedurfte es der Blicke, Bitten, Bekenntnisse und Anträge, um aus einer gedachten Unmöglichkeit eine Möglichkeit zu machen. Heute bedarf es des Verbittens , um aus einer gedachten Möglichkeit eine Unmöglichkeit zu machen.
Kollegen und Kunden, Chefs und Geschäftspartner werden zu Vertrauten. Die freien Menschen können kommunizieren , wie man sagt. Sie wollen zu jedem persönlich sein, niemals oberflächlich . Sie suchen das Gespräch. Kollegen, Kunden, Chefs und Geschäftspartner werden so zu Möglichkeiten. Die freien Menschen kommen allen Menschen nahe – und in der Nähe wird das Nächste zur Notwendigkeit. Die öffentlichen Massen werden privatisiert. Ein gemeinsames Essen reicht, eine gut gelaunte Konferenz, schon ist der Fremde ein
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