Das Ende der Liebe
Einzelnen vertreten kann. Die Parteien sind ein Versuch, die Unendlichkeit zu ignorieren, auf sie mit einer, wie man sagt, Paketlösung zu antworten. Doch die Zahl der Stammwähler sinkt. Und immer mehr bleiben Stammwähler nur aus Treue und Tradition, nicht aus Überzeugung und Leidenschaft. Auch die Zahl der Stammwähler eines Menschen sinkt. Immer mehr werden Wechselwähler: Sie überprüfen permanent, ob ihre Wahl noch die richtige ist, und wechseln den Partner, wenn sie unzufrieden sind. Oder sie bleiben in der Partnerschaft, doch nur aus Treue und Tradition, nicht aus Überzeugung und Leidenschaft.
Keine Erscheinung, um die es hier geht, ist ganz und gar neu in der Geschichte. Bereits das alte Rom war eine Stadt, in der die Auswahl das Wählen erschweren konnte. Auf den Straßen und in den Arenen zeigte sich eine Fülle an Frauen für die Männer, an Männern für die Frauen. Die Vielen wurden sichtbar, konnten kontaktiert werden. Amor war von Anfang an geflügelt. Seit jeher sind Liebe und Erregung flatterhaft und flüchtig.
Eben darum aber sind sie anfällig für alles, was sie in dem bestärkt, was sie ohnehin sind ; was sie noch flatterhafter, noch flüchtiger macht. Liebe und Erregung können nur dauern, [96] wenn ihre Bedingungen nicht die besten sind – wenn die Hastigkeit des Wählens nicht auf eine Üppigkeit der Auswahl trifft, das Begehren nicht überall und immer auf Bereitschaft.
Worum es also geht, ist eine Steigerung. Quantität schlägt um in Qualität, aus immer mehr Masse und immer mehr Möglichkeiten wird schließlich Unmöglichkeit. Aus besonderen Erscheinungen in der Geschichte wird nun das Typische einer Epoche.
Manchmal entdeckt jemand auf alten, verblichenen Fotos einen Menschen, der später Geschichte gemacht hat, zum Zeitpunkt der Fotografie aber noch ein Niemand war – er war damals schon ganz jene Person, die später Geschichte machen würde, doch noch unbedeutend, anonymes Partikel in der Masse.
So ist es auch mit der Unendlichkeit möglicher Partner. Man stößt auf sie in alten Büchern, in allen Epochen; sie ist bereits ganz diejenige, die später Geschichte machen wird. Doch sie ist noch völlig unbedeutend für die Mehrheit der Menschen.
Heute bringen die Menschen systematisch Unendlichkeit hervor. Sie glauben nicht nur an die Unendlichkeit (Gottes), sie denken sie nicht nur (mathematisch), sie schaffen sie – durch ihre Zusammenballungen und beschleunigten Bewegungen, mittels ihrer Medien und Techniken, ihrer Möglichkeiten der Selbsterschaffung und Selbstzerstörung, mittels aller Freiheiten, die in Kontakt zueinander bringen, was einst getrennt voneinander war. Sie verbinden die Parzellen, in denen die Geschlechter, die Familien, Klassen, Kulturen und Kontinente lange voneinander geschieden waren; ein Gatter nach dem anderen wird hochgezogen. Die Menschen produzieren unüberschaubar große Zahlen. Immer mehr Häufungen [97] und Ansammlungen entstehen, die keine sichtbare Grenze mehr haben. Während Tiere das tierische Maß nie überschreiten, kein Ameisenhaufen zu groß für Ameisen ist, überschreiten die Menschen ständig das menschliche Maß, und zwar – in der Liebe – schon durch sich selbst . Es werden dem Menschen zu viele Menschen.
Unendlichkeit ist nicht unbedingt wirkliche Unendlichkeit, in jedem Fall aber erfahrene . Die Menschen nehmen wahr, dass es unendlich viele mögliche Partner gibt. Das heißt: Sie nehmen mehr mögliche Partner wahr, als sie physisch wahrnehmen können. Sie nehmen so viele wahr, dass sie annehmen, es müsse unendlich viele geben. Man könnte die tatsächliche Unendlichkeit die große, die nur erfahrene die kleine Unendlichkeit nennen. Die kleine Unendlichkeit ist nichts anderes als der Verlust des Überblicks.
Die Unendlichkeit entsteht daraus, dass die Menschen Einen wahrnehmen, einen Anderen wahrnehmen, dann wieder einen Anderen und wieder einen Anderen. Jeder Andere aber ist eine Endlichkeit, ein begrenzter Mensch, mit begrenzten Fähigkeiten, einer begrenzten Schönheit, einer begrenzten Persönlichkeit. Die Unendlichkeit entsteht also aus der Aneinanderreihung unendlich vieler Endlichkeiten.
Unendlichkeit ist gestapelte Begrenzung. Das ist ihr Paradox. So groß sie auch ist, ihre Teile sind klein. Das Paradies ist aus Backstein. Die Menschen können aber nicht unendlich viele Backsteine wahrnehmen, sie müssen das Paradies wahrnehmen, das ihr Bewusstsein aus den Backsteinen baut.
Das Bewusstsein setzt alles zusammen, was
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