Das Ende der Liebe
sollte ich diesen wählen? Warum nicht jenen? Was hat dieser, was jener nicht hat? Was verpasse ich, wenn ich diesen wähle?«
An die Stelle der unbewussten Logik der Liebe tritt also die bewusste Logik des Wählens, die allmählich aufscheinende Logik der Nichtliebe. Die Freiheit zwingt die Menschen, sich selbst Kriterien und Zwecke zu schaffen – und bringt somit ihr Gegenteil hervor, den Zwang zur Zweckmäßigkeit. Die Menschen, die angesichts der großen Auswahl gezwungen sind, etwas Vernünftiges zu wollen, bleiben gegenüber ihrem Gewollten nicht frei, sondern müssen es wollen . Sie müssen sagbare, vernünftige Wünsche entwickeln und diese verwirklichen.
Das Wollen und Wünschen der Menschen führt jedoch ohnehin ins Unglück.
Denn wer etwas will, hat das Gewollte bereits gehabt – in seiner Fantasie. Das Wollen ist nicht einfach ein Wunsch, sondern ein Wunsch und dessen Erfüllung in der Fantasie. Es ist ein Bedürfnis und ein Bild von dessen Befriedigung. Das Wollen zeigt nur vermeintlich einen Mangel an, tatsächlich ist es vollständig, ein geschlossenes Ganzes. Der Mensch kann seinem Wollen nichts mehr hinzufügen. Das Gewollte existiert ja bereits als fixe Idee, fix und fertiger Traum.
Jeder Versuch, dem Wollen etwas hinzuzufügen, es also in der Wirklichkeit zu erfüllen, muss enttäuschend verlaufen. Die vermeintliche Erfüllung ist stets das fünfte Rad am Wagen. [163] Das Wollen zieht jeder Erfüllung in der Wirklichkeit die – ursprüngliche – Erfüllung in der Fantasie vor.
Das Paradox der Wunscherfüllung lautet: Es erfüllen sich nur Wünsche, die nicht existieren . Der Mensch muss von einer Erfüllung überrumpelt werden, bevor er ein Bedürfnis (und ein Bild von dessen Befriedigung) entwickelt hat. Es kann sich nur dann erfüllen, was der Mensch will, wenn sein Wollen auf die Erfüllung folgt , nicht umgekehrt. Glück entsteht, wenn die Erfüllung dem Wollen zuvorkommt.
Der Glückliche sagt: »Zuerst wusste ich gar nicht, was ich davon halten sollte. Doch dann fühlte ich, dass ich glücklich war, dass es genau das war, was ich wollte.« Wer dagegen wählen muss, muss vor einer Erfüllung wollen. Der Zwang zum Wählen ist ein Zwang zum Wollen, führt also notwendig ins Unglück.
Der Wille der freien Menschen ist zudem ein Lebensgefährte, der jeden Tag seine Treue aufkündigen kann, der keine Treue kennt. Die Zukunft wird unabsehbar. Die Menschen wachen auf und finden das Bett neben sich leer: Ihr Wille ist nicht mehr dort, wo er die vergangenen Jahre jeden Morgen gewesen ist, er hat sie verlassen, ist fort. Die Menschen haben nur die Wahl, ohne ihren Willen das alte Leben weiter zu leben, ein Leben ohne ihren Willen zu ertragen (eine einsame Angelegenheit), oder ihrem Willen hinterherzulaufen, ein anderes Leben zu beginnen, also von vorne anzufangen, auch wenn sie dazu nicht die geringste Lust empfinden, wenn sie tatsächlich nichts mehr fürchten könnten, als jetzt, in ihrem Alter , noch einmal von vorne anzufangen, mit nichts und wieder nichts als ihrem Willen, der immer weiter will, anders und woanders leben, mit einem Anderen; einem Willen, der vielleicht morgen schon wieder fort sein wird, die Menschen allein in ihrem Bett zurücklassend, der über Nacht verschwunden [164] sein wird, sich so häufig und so schnell ändert, wie kein Mensch sich ändern kann.
Die Einsamkeit der freien Menschen besteht darin, dass sie entweder von ihrem Willen dauerhaft getrennt leben, oder wegen ihres Willens sich trennen vom Partner, von einem Ort, einer Arbeit, ihren Freunden. Sie sind, so oder so, getrennte Menschen , die immerzu suchen müssen, sich sehnen nach Einheit.
Der Umgang mit Unendlichkeit ist schmerzhaft. Denn es ist der Unendlichkeit eigen, dass man sie nicht haben kann. Das heißt, die Menschen haben sie ja schon, aber nur als Idee. Während die Unendlichkeit selbst unendlich groß ist, also undenkbar, ist die Idee von der Unendlichkeit – wie das Wort – überschaubar, handlich. Die Idee der Unendlichkeit passt in den kleinsten Kopf und richtet dort die größten Schäden an.
Die Unendlichkeit ist abweisend. Der Passant, der sie verkörpert, geht vorbei. Die Masse, die sie verkörpert, wird die Menschen nie an ihren Busen drücken. Sie bleibt immer distanziert, abgewandt. Es sei denn, einer wäre ein Führer, ein Star, doch selbst dann ist die Masse unfähig zur Liebe, beziehungsunfähig .
Die Unendlichkeit übersteigt das Menschliche, widersetzt sich ihm wie das
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