Das Ende der Liebe
nicht aus Süddeutschland. Er hatte kein Haar auf der Nase.«
Die Hydra ist einerseits reicher als jeder einzelne Partner, den die Menschen finden können, ein unendliches Wesen. Doch andererseits ist sie ärmer – arm am Schmutz der Einzigartigkeit. Sie ist ein paradoxes Wesen, das alle denkbaren Eigenschaften in sich vereint, ohne eine besondere zu haben .
In einer unendlichen Welt verschwindet jedoch ohnehin jede Schönheit – grundsätzlich, ohne Ausnahme. Die Schönheit verschwindet, weil sie stets umgeben ist von noch mehr Schönheit, weil der Schöne stets auftritt in einer Masse von Schönen.
Die Schönheit eines Menschen kann nur dann die Masse der Schönen, die Unendlichkeit, symbolisieren, wenn sie [155] allein auftritt. Der Schöne in der Kunst, der Literatur, im Film tritt fast immer allein auf. Vielmehr: Er tritt immer allein auf. Denn wenn er in der Mehrzahl, in der Masse aufträte, wäre er nicht mehr schön, sondern seine Schönheit wäre herabgesetzt auf ein rein Physisches, auf den Standard des Ebenmaßes, der Makellosigkeit. Auf Gleichförmigkeit. Es ist geradezu Bestimmung des Schönen, dass es einzigartig ist. Der schöne Mann und die schöne Frau sind ohnegleichen, die einzigen Schönen auf dem Bild, in einem Roman, einem Film. Nur darum können sie die Unendlichkeit der Schönen symbolisieren.
In den unendlichen Städten und Medien, im Internet, treten die Schönen dagegen immer in der Mehrzahl auf. Der Betrachter sieht zugleich oder kurz hintereinander unüberschaubar viele Schöne. So kann kein Schöner mehr für alle stehen. Denn alle stehen ja daneben oder kommen gleich hinterher . Das ist das Laufsteg-Paradox: Auf einem Laufsteg kann kein Mensch schön sein. Der Laufsteg hebt die Schönheit, die er zeigen soll, auf. Auf diese Weise funktioniert jetzt jede Zeitschrift, jede Straße in einer großen Stadt, jede Internetseite, die der Partnersuche dient. Sie sind Laufstege, Fließbänder der Schönheit. Sie dienen der Massenproduktion oder vielmehr: Massenverschrottung von Schönheit.
Die Schönheit verliert also weniger durch Vergleich, sondern sie verträgt ihre Verzigfachung nicht, weil sie selbst das Zigfache ist .
Das ist das Ende der Schönheit in einer unendlichen Welt. Die Schönheit verschwindet durch ihre Vervielfältigung, nicht weil der Schönheit das Einzigartige abhanden käme, das Besondere, sondern im Gegenteil, weil die Schönheit nicht mehr das Gemeine sein kann, das Symbolische, Unendliche.
Jede sogenannte Schönheit erinnert die freien Menschen jetzt an eine andere, und diese andere erinnert sie wieder an [156] eine andere und so fort – in einem unendlichen Rückschreiten des Erinnerns. Vielmehr: nicht in einem unendlichen. Denn auf dem Grund dieses Erinnerns liegen die wenigen, zwei oder drei tatsächlich Schönen, denen die Menschen begegnet sind, jene Schönen, die noch für die Unendlichkeit stehen konnten, die nicht bloßes Ebenmaß waren, sondern Symbol für alles, für alle, die Gattung. Jetzt, da die Menschen unendlich Viele gesehen haben, da ihre Erinnerung zu einem Laufsteg geworden ist, auf dem alle Gesehenen, alle Geliebten, Begehrten und Verpassten, alle Nicht-mehr-Geliebten und Nicht-mehr-Begehrten dahin schreiten, ein Laufsteg der ersten Lieben, der Erfahrungen, der Sehnsucht und des Überdrusses – nun ist die Schönheit unmöglich geworden.
Nicht nur die Schönheit wird vernichtet durch Vervielfältigung, auch die Geheimnisse der Seele und die Lebensgeschichte verlieren ihren ursprünglichen Charakter. Auch wenn die Menschen mit einem Anderen sprechen, sie Einzelheiten aus seinem Leben in Erfahrung bringen, den Umriss einer Persönlichkeit erkennen, bleibt er einer von vielen.
Denn Lebenslauf, Persönlichkeit und Trauma sind jetzt ebenso freigegeben zur Vermassung wie die Schönheit. Der Andere lässt sich durch ein tiefes Gespräch nicht mehr aus der Masse lösen, im Gegenteil, er versinkt noch tiefer in ihr. Nach dem tiefen Gespräch ist die letzte Illusion von Einzigartigkeit dahin. Das Wesen eines Menschen erweist sich als so wiederholbar wie dessen Erscheinung. Es gibt nicht nur Dutzendlippen und Dutzendnasen, sondern auch Dutzendprobleme. Die Psychologie kennt das Zigfache wie die Ästhetik.
Was einen Menschen einst besonders machte, macht ihn jetzt gemein. Die Offenbarungen der Seele und der eigenen Urteile, die Träume und Lebensgeschichten haben sich in den Medien, in Kunst und Alltag der freien Menschen so oft [157] wiederholt,
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