Das Ende der Liebe
dass ihr Effekt nun der gegenteilige ist. Je länger ein Mensch von sich selbst spricht, umso verwechselbarer wird er.
Die Unendlichkeit ist in alles gedrungen wie Wasser, sie hat es aufgeschwemmt, aufgelöst. Der einzigartige Mensch, der einzigartige Augenblick sind verschwunden. Alles wird als Wiederholung wahrgenommen. In einer unendlichen Welt ist die einzige Einzigartigkeit, die sich noch behauptet, das Leben selbst – im Rückblick . Könnten die Menschen auf ein Leben mit jenen zurückblicken, die sie in diesem Moment erst kennen lernen, sie entkämen der Unendlichkeit. Aber sie können von einem gemeinsamen Leben nur träumen. Die Träume jedoch können ihre Rollen mit vielen besetzen, nie nur mit einem.
Wo die Schönheit nichts mehr symbolisiert, wo Trauma und Lebensgeschichte jemanden nicht mehr einzigartig machen, der Einzelne also keinen Wert mehr besitzt, weil es von allem zuviel gibt, da müssen die Menschen sich nach einem Vielwesen sehnen.
Vor allem aber entsteht die Hydra aus der Begegnung mit Vielen. Sie ist die Summe aller Passanten und Gelegenheiten.
Ein Mann sucht nach einem Restaurant. Er kommt an vielen vorbei, die ihn verlocken, doch er geht weiter. Irgendwann reizen ihn die Restaurants immer weniger. Jedes einzelne ist enttäuschend – im Vergleich mit allen anderen, auf die er zugunsten dieses Einen nun verzichten müsste. Der Mann vergleicht jedes einzelne mit der Summe der Restaurants, die er gesehen hat. Gleichgültig, vor welchem Restaurant er steht, alle anderen werden in seinem Kopf zu einem, mit denen er das jeweilige Restaurant vergleicht. Die Summe ist seine Hydra.
[158] Allerdings kann der Mann immerhin zu jedem Restaurant, an dem er vorbeigegangen ist, zurückkehren. Er kann nicht in allen Restaurants gleichzeitig essen, doch immerhin in jedem Einzelnen. Die Teile seiner Summe bleiben ihm zugänglich.
Die Partnersuchenden dagegen können nicht zu ihren vergangenen Begegnungen zurückkehren (oder nur in den seltensten Fällen). Die Teile ihrer Summen, ihrer Hydra, bleiben ihnen nicht zugänglich. Also ist ihre Hydra doppelt fiktiv . Die Suchenden können weder mit der Summe der möglichen Partner noch mit den Einzelnen, die ihnen in der Vergangenheit begegnet sind, zusammen sein. Dennoch behandeln die Partnersuchenden ihre Begegnungen wie der Restaurantsuchende die Restaurants. Sie kennen keine zurückliegenden Möglichkeiten. Sie hören nicht auf, an ihre vergangenen Möglichkeiten zu denken, als seien diese gegenwärtig, als liege die lange Reihe ihrer Begegnungen nicht in der Zeit, sondern im Raum – wie die lange Reihe der Restaurants, wie ein Laufsteg. Sie vergleichen jeden möglichen Partner mit der Summe der vergangenen (möglichen) Partner.
Die Tür zu ihren vergangenen Entscheidungen (sich nicht zu entscheiden) bleibt auf ewig offen. Als herrsche gewaltiger Unterdruck hinter der Tür, werden die Menschen aus der Kapsel der Gegenwart gesaugt, in den offenen, unendlichen Raum der Vergangenheit. Die Hydra ist ein unendlicher Raum, eine saugende Unendlichkeit. Und die Zukunft, die Hoffnung der Menschen, ist nichts als ihre summierte Vergangenheit. Je mehr die Menschen in der Vergangenheit gesehen und hinter sich gelassen haben, umso mehr wollen sie in der Zukunft finden. Die Hydra sind ihre gesammelten Verluste, gespiegelt in die Zukunft.
Tatsächlich vergleichen die Menschen aber nicht jeden möglichen Partner mit den ganzen anderen möglichen Partnern, [159] sondern nur mit Teilen von ihnen. Die Menschen erinnern sich nie an einen ganzen Menschen, an eine ganze Begegnung oder Beziehung, sondern immer nur an Teile – an Körperteile, Zeitabschnitte, einzelne Gesten und Taten. Sie vergleichen einen Menschen nur mit dem Schönsten, Angenehmsten eines anderen: mit dem Haar des Ersten und den Küssen des Zweiten, mit der Zeit vom 23. Oktober 1995 bis zum Anfang Januar 1996 mit dem Dritten, der Zeit vom 15. Juli 1999 bis zum 23. Juli 2002 mit dem Vierten …
Die Hydra ist eine Collage – aus Zeitfetzen, Körperfetzen, Handlungsfetzen. Ein Vielwesen nicht aus vielen Ganzheiten, ganzen Menschen, ganzen Begegnungen, sondern aus vielen Teilen. Die Hydra besteht nicht aus allen Erinnerungen, nur aus ausgewählten.
Sie ist also dreifach fiktiv: erstens als Möglichkeit der Summe, der Unendlichkeit – also alle möglichen Partner zu besitzen, alle in einem zu finden; zweitens als Möglichkeit der Rückkehr zu einzelnen Menschen und Begegnungen, obwohl diese längst der
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