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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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nicht, einem Dritten, einem Passanten. Nur im Sex mit einem, der noch Masse ist, weil er eben erst aus ihr aufgetaucht ist, nur mit einem solchen Auftauchenden, von der Unendlichkeit neu Geborenen, hört der Schmerz der Menschen auf, sind sie für einen Augenblick schmerzfrei.
    Die Frage, ob es lohnender im Leben sei, das Glück zu suchen oder nur den Schmerz zu meiden, stellt sich für die freien Menschen also nicht. Denn sie sind schmerzfrei nur im größten, flüchtigsten Genuss, im Sex mit einem Dritten, einem Passanten.
    Endlich lässt das Hoffen nach, gibt sich das Sehnen, die Nostalgie, die endlose Reue. Keine Überempfindlichkeit stört jetzt das reine Verlangen. Alles im Innern der Menschen wird ruhig, macht einer Ruhe Platz, einer Erregung. Durch den Mund des Passanten küssen die Menschen die Hydra, unter [171] der Haut des neu Erkannten ertasten sie sie. Die Menschen sind erlöst. Kussweise, mit jedem Atemzug.
    Im Geruch des Anderen riechen sie nicht nur einen (ein persönlicher Geruch würde ihre Überempfindlichkeit auslösen), sondern alle. Nicht einmal die besonderen Kennzeichen – das blonde Haar, die grünen Augen – stören sie; denn der Kopf, den die Menschen in ihren Händen halten, ist ja nur einer von vielen Köpfen dieses unendlichen Wesens; andere Köpfe haben schwarzes Haar und braune Augen: ja, den Menschen will es tatsächlich scheinen, als sei der Eine, den sie aus der Masse wählten, noch Teil von ihr, als ströme ein Wesen mit unendlich vielen Köpfen durch die Straßen, als sei es ein Wesen, das die Tanzflächen fülle, unendlich viele Arme in die Höhe werfe, Haare in allen Farben habe, unendlich viele Münder – und als fassten sie, die Menschen, nun zwei dieser Arme, fassten einen all dieser Schöpfe, küssten einen all dieser Münder, hielten nun einen Kopf dieses unendlichen Wesens – der Hydra – endlich in Händen.
    Die edle Herkunft des Anderen ist also nicht mehr notwendig die gute Familie – sondern die unendliche Masse. Wie die Regenten nicht mehr von adeligem Geschlecht sein sollen, sondern aus dem Volk, soll der Begehrte nun Repräsentant der Massen sein, nicht einer von Wenigen, sondern einer von Vielen, Gischt der Passantenströme, die durch Straßen und Passagen fließen, Museen und Diskotheken, Büros und Messehallen, einer aus der Masse der Tanzenden. Die Menschen begehren nicht Königssohn noch Königstochter, sondern den Sprössling der Unendlichkeit.
    Die ewig ferne Masse – auf einmal berührt sie sie, wie Gott durch Priesterhand. Die Menschen schlafen mit der Unendlichkeit. Erst bei der zweiten oder dritten Begegnung wird der Andere er selbst, also zur Enttäuschung.
    [172] Die Sexualität der freien Menschen ist keineswegs die Ursache all ihrer Motive, kein seelischer Allesantreiber. Doch Sex ist von allem das Ziel – das, worin die Liebe sich erfüllen will (und in dessen Ungenügen, Verblassen sie häufig genug ein Ende findet), und das, worin die Unendlichkeitssucht der Menschen sich erfüllen will (und in dessen Ungenügen, Verblassen sie ein weiteres Mal enttäuscht wird).
    Die Unendlichkeitssucht der Menschen ist eine Sexsucht. Wie der Liebende in einem fort seinen Geliebten küssen, mit ihm schlafen will, so wollen die freien Menschen unendlich Viele küssen, mit unendlich Vielen schlafen. Vielmehr: Auch sie würden am liebsten nur einen küssen. Sie sehnen sich nach der Liebe, die ihr Verlangen auf einen konzentriert. Doch sie müssen immer wieder Neue finden, neu Geborene, von der unendlichen Welt eben erst zur Welt Gebrachte, mit der Unendlichkeit noch durch die Nabelschnur des Augenblicks Verbundene, mit dem Fruchtwasser der Passantenströme noch Benetzte.
    Die Liebessuchenden, die der Unendlichkeit verfallen sind, stürzen von der Liebessuche in die Sexsuche, den Passantensex.
    Mehr noch als die Liebe war die Erregung seit jeher offen für Viele. Gegen die unendliche Erregung diente lange die Ehe als Schutz. Sie wurde nicht mit Einem geschlossen, sondern gegen alle anderen . Eine Ehe aus Liebe und Erregung zu schließen, wäre ein Widerspruch in sich gewesen, das Gleiche, wie ein Schiff aus dem Wasser zu bauen, das es eigentlich überwinden soll.
    Heute bauen die Menschen bekanntlich Schiffe aus Wasser. Und jener – immer schon – unendlichen Erregung kommt die Welt mit unendlichen Erregungsmöglichkeiten entgegen. Wie das Hassen sich in der Geschichte immer nach den Möglichkeiten [173] zu hassen gerichtet hat, so richtet sich die Erregung

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