Das Ende der Liebe
Absurde. Sie ist das Absurde von heute. Aus den absurden Menschen werden die freien Menschen. Die absurden Menschen erwarteten eine göttliche Ordnung, eine Ordnung in der Geschichte, doch sie fanden Unordnung. Sie erwarteten einen Sinn und trafen auf die Sinnlosigkeit.
Die freien Menschen erwarten keinen Sinn mehr, sondern Unendlichkeit. Sie sehen die Möglichkeit der Unendlichkeit der Möglichkeiten. Sie erwarten Unendlichkeit und treffen auf die Endlichkeit. Der Unendlichkeit gilt ihre Hoffnung, ihre Sehnsucht und Suche. Doch sie bleibt ihnen ein Leben [165] lang verschlossen. Kein Verbot, kein Türhüter halten die Menschen ab. Sie müssen sich nicht bücken, um die Unendlichkeit zu sehen. Doch Einlass finden sie nicht. Ausgerechnet die unbegrenzten Möglichkeiten bilden die Grenze ihres Lebens.
Das Scheitern verschwindet. Denn wer enttäuscht wird, geht wieder auf die Suche. Die Möglichkeit, zu scheitern, ist den freien Menschen genommen. Sie müssen immer weiter suchen, weil sie scheinbar nie ans Ende ihrer Möglichkeiten gelangen.
Das Scheitern kehrt zurück – als Müdigkeit. Die Menschen sagen: »Ich will nicht mehr suchen. Ich will nie mehr suchen. Ich kann nicht mehr suchen.« Sie können nicht mehr über die Welt verzweifeln, nur über sich selbst, denn die Welt lässt sie immer hoffen. Also müssen sie die Hoffnungslosigkeit bei sich selber suchen. Sie sagen: »Ich bin ein hoffnungsloser Fall.«
Eine achtunddreißigjährige Frau hat sich das Leben genommen, weil sie nicht mehr suchen wollte. Sie habe ihr Leben lang gesucht und nun keine Kraft mehr, hatte die Frau wenige Wochen vor ihrem Tod zu ihrem Ex-Mann gesagt. Außerdem nehme sie an sich selbst, in ihrem neununddreißigsten Jahr, eine zunehmende und zunehmend sich beschleunigende Selbstverschlechterung wahr, die die Suche erschwere, letztlich aussichtslos mache. Allein der Gedanke, noch einmal suchen zu müssen und tatsächlich immer und immer wieder suchen zu müssen, sei ihr unerträglich, so die Frau zu ihrem letzten Ex-Freund. Die Frau beging Freitod durch eine ihr vertraute Methode, an einem ihr vertrauten Ort. Die Menschen, die sie liebten, suchten mehr als zehn Monate, bis sie sie fanden.
[167] TEIL III
WAS DIE LIEBE IN DER FREIHEIT SEIN SOLL
[169] SECHS
DIE SUCHE NACH DEM MEIST-ERREGENDEN
Das sechste Kapitel: in dem berichtet wird, dass es doch eine Möglichkeit gibt, die Unendlichkeit zu besitzen: im Sex; dass die Menschen die Verbindung zur Unendlichkeit möglicher Partner vor allem in der Selbstbefriedigung aufrecht erhalten; dass sie eine eigene Sexualität entwickeln infolge der Vielzahl der Erfahrungen und unendlichen Fantasien; dass Klaus und Natascha ihre Sexualität gerne ausleben; dass jedes Gespräch der freien Menschen in den Sex stürzt; dass die Menschen sagen: »Aber früher oder später würden wir es doch tun«; dass sie nicht mehr wissen, warum sie nicht sofort Sex haben sollten und was sie sonst tun sollten; dass sie sich das Glück als Ekstase denken, nicht als Existenz; dass die Sexsucht das Symptom der unbegrenzten Möglichkeiten ist; dass der Sex sich immer unabhängiger macht von der Liebe, die Liebe sich aber immer abhängiger vom Sex; dass die Menschen die Liebe also mittels des Sex suchen, mittels der Erregung; dass der zu Liebende der Meist-Erregende sein soll, Verkörperung der sexuellen Möglichkeiten; dass die Sexualität der freien Menschen ein Tempel ist, in dem der Unendlichkeit, der Hydra gehuldigt wird, der durch den Monotheismus der Liebe nicht mehr erobert werden kann
[170] Die Menschen küssen einen, den sie bis vor kurzem noch nicht kannten. Sie atmen den fremden Geruch, dessen Fremdheit, Neuheit selbst. Sie sehen sich noch, wie sie den Anderen zum ersten Mal sehen, als Unbekannten in der Menge, Passant im Strom des Tages, unbekanntes Gesicht, unbekannter, noch verhüllter Körper. Jetzt sind sie mit ihm in einer Wohnung; deren Schwelle ist die letzte gewesen, die sie überschreiten mussten. Das Gespräch kreist in der Luft wie ein Vogel, der sich bald auf seine Beute stürzen wird; es muss sich nur der Schwerkraft ergeben.
Etwas Unwirkliches umgibt das andere Gesicht, den anderen Körper. Den Menschen scheint es, als sei das Unberührbare berührbar geworden, ein unendlich Großes plötzlich Mensch.
Es gibt doch eine Möglichkeit, die Unendlichkeit zu besitzen, wenn auch nur für einen Moment: Die freien Menschen besitzen sie im Sex. Im Sex mit einem, der nicht ihr Partner ist, noch
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