Das Ende der Liebe
auch nach den Erregungsmöglichkeiten. Die Welt, in der die freien Menschen leben, zeichnet sich eben dadurch aus – dass nicht mehr die organisierten Möglichkeiten des Hassens unendliche sind, sondern die der Erregung, des Genusses.
Die Unendlichkeit der möglichen Partner ist tatsächlich zuerst eine Unendlichkeit möglicher sexueller Partner. Die Wahlfreiheit, der die Menschen zum Opfer fallen, ist zuerst sexuelle Wahlfreiheit. Die Vielzahl der Erfahrungen, die die Menschen machen, ist vor allem eine Vielzahl sexueller Erfahrungen. Die Hoffnung der Menschen ist vor allem eine sexuelle Hoffnung, die Nostalgie vor allem eine sexuelle Nostalgie. Wenn die freien Menschen sich an ihre große Liebe erinnern, erinnern sie sich vor allem an großen Sex. Die Hydra der Liebe, die im Kopf der Menschen gewachsen ist und der die endlose Suche der Menschen gilt, ist vor allem eine Hydra des Sex.
Die Menschen, die in alten Tagen höchstens mit der Zeit und ihren Versuchungen zu vielen Partnern kamen (wenn überhaupt), suchen heute die Unendlichkeit der möglichen Partner von Anfang an . Die Versuchung wird zum Vorsatz, zur Hydra im Kopf; es ist, als hätte Adam schon am ersten Tag vom Baum der Erkenntnis geträumt, ihn gesucht und endlich gefunden.
Sex ist weniger ein Geschehen, ein Sicht- und Machbares, als ein Tor zu etwas Anderem. Sex verbindet, wie das religiöse Ritual, das Diesseits mit einem Jenseits: einem Fantastischen, der Liebe, der Unendlichkeit. Wer Sex hat, wie man sagt, tut nicht bloß dies oder jenes, sondern beschwört ein Fantasma, tritt in Kontakt mit einer unsichtbaren Welt.
Im Unterschied zum Ritual aber, das für alle das Gleiche bedeutet, sieht jeder Beteiligte an einer sexuellen Handlung [174] darin etwas anderes, hat Zugang zu einem anderen, persönlichen Jenseits.
Was für den Einen ein Tor zur Liebe, das ist für den Anderen ein Tor zur Macht, zur Unterwerfung; was für den Einen ein Tor zur Vereinigung mit dem Einzigen, ist für den Anderen ein Tor zur Vereinigung mit unendlich Vielen – oder gar kein Tor. Dann ist Sex für diesen tatsächlich bloß ein Geschehen, ein Sicht- und Machbares, wie das Verlegen von Fliesen oder das Backen von Brot, nicht einmal das. Denn Sex hat keinen profanen Sinn (es sei denn den Sinn der Fortpflanzung), nur einen fantastischen, und wenn der sich verflüchtigt, bleibt nichts als die Absurdität eines biologischen Vorgangs.
Für die freien Menschen also soll Sex ein Tor zur Unendlichkeit sein: das einzige. Die ursprüngliche Form dieser Verbindung ist jedoch nicht der Sex mit anderen, sondern die Selbstbefriedigung. Selbstbefriedigung ist die einzige Möglichkeit, Fantasien zu haben und sie gleichzeitig auszuleben; die einzige Möglichkeit, eine fiktive Handlung einem echten Höhepunkt zuzutreiben. Eine Sexfantasie ist: Sex in Wirklichkeit.
Die Menschen brauchen also keinen anderen, um die Verbindung mit den unbegrenzten Möglichkeiten herzustellen, sie können es selbst. Den roten Faden im Leben der freien Menschen, den einzig verbleibenden, bilden keine gemeinschaftlichen Ereignisse und Rituale mehr, sondern ihr Bewusstseinsstrom, das fortgesetzte Selbstgespräch , und ihr Erregungsstrom, die fortgesetzte Selbstbefriedigung .
Auch während ihrer Partnerschaften fahren die freien Menschen fort, zuerst und vor allem mit sich selbst zu sprechen, zuerst und vor allem sich selbst zu befriedigen. Auch während ihrer Partnerschaften halten sie durch die Selbstbefriedigung [175] die Verbindung zur Unendlichkeit der möglichen Partner aufrecht. Die Selbstbefriedigung ist also kein Sexersatz mehr. Sie ist die primäre Sexualität der freien Menschen.
Die Selbstbefriedigung ist ein Gang durch das Warenhaus des Tages. Die freien Menschen stellen sich alle Passanten des Tages vor, dazu all jene, die sie im Gedächtnis bewahren. Sie schlafen mit der Hydra, lassen sie entstehen aus der Folge der Vielen – der Vielen des Tages und der Vielen all ihrer Jahre, die sich, wie in Zigfachbelichtung, nebeneinander reihen im fantasierenden Bewusstsein.
In ihrer Fantasie besitzen sie alle, wieder und wieder. Sie springen von einem zum anderen, überspringen Jahre und Jahrzehnte. Sie kennen keinen Verzicht, keinen Abschied. Niemand geht vorbei. Keiner ist verloren.
Am Ende müssen sie sich doch entscheiden. Die Menschen überlegen, machen Pausen, probieren diesen, versuchen jenen. Tatsächlich schaffen sie es, auch am Schluss, während ihres sogenannten Höhepunktes, die
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