Das Ende der Liebe
nur zu Hause, tun und lassen können, was sie wollen, also permanent tun müssen , was sie tun wollen.
Die Öffentlichkeit, das waren Regeln, Abläufe, Gebote und Verbote, ein Raum, der von einem Gitter aus geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen durchzogen war, der bis zum Rand gefüllt war mit Ereignissen und Handlungen, deren Ablauf feststand, die öffentlich zu bleiben hatten. Ein gesellschaftliches Ereignis war wie die Fahrt auf einem Atlantikdampfer – der Ausstieg unterwegs war unmöglich. Dagegen können die Menschen jetzt immer und überall aussteigen ins Private und Intime. Sie stehen im Theater auf nach dem zweiten Akt; sie verlassen ein Fest, noch bevor es richtig begonnen hat. Sie sagen »Jetzt gehen wir! Wir lassen uns fallen in den Sex.«
Die Öffentlichkeit war ein Raum, in dem die Zeit geregelt war durch Geschwindigkeitsbegrenzung: Nicht jetzt! Nicht beim ersten Mal! Nicht vor einem Jahr! Nun ist das Gitter verschwunden, die Öffentlichkeit implodiert. Die Menschen sind auch öffentlich zu Hause. Früher sagten sie: »Zu Hause tue und lasse ich, was ich will.« Jetzt sagen sie: »Im Café tue und lasse ich, was ich will.« Auch das Café ist ein eigener Raum.
Früher waren die Menschen immerhin in der Öffentlichkeit vor ihrem eigenen Willen sicher. Heute werden sie auch in der Öffentlichkeit von ihrem Willen beherrscht. Heute geht auch in der Öffentlichkeit alles so schnell, wie es zu Hause gegangen wäre. Die Menschen können tun, was sie wollen, also müssen sie es tun. Genauer: Sie müssen tun, was sie wollen, weil sie nichts mehr tun können, was sie tun müssen. Sie gleichen einem Junkie, der auf die Frage, warum er mit dem Junk begonnen habe, sagt: »Weil ich nichts Besseres zu tun hatte.« Dabei handelt es sich nicht um ein so vages Gefühl [179] wie Langeweile, sondern um die harte Wirklichkeit des Nichts : Wer nichts zu tun hat, weil er nichts tun muss, der muss immer tun, was er will, wonach ihn im jeweiligen Augenblick verlangt.
Die freien Menschen haben nichts vor. Was werden sie am Abend machen? Am nächsten Tag? In der Woche und am Wochenende? Im Sommer? An Weihnachten? Neujahr? Im nächsten Jahr? Sie wissen es nicht. Sie wissen nur: Wenn sie nichts wollen, wird nichts passieren. Der Abend wird ein leerer Abend sein, der Tag ein leerer Tag, der Sommer ein leerer Sommer. Es wird kein Weihnachten geben, kein Neujahr. Vor den freien Menschen liegt das Nichts. Sie stürzen in ihre Möglichkeiten, weil kein Müssen Raum und Zeit füllt, eine Gegengravitation erzeugt. Für die Menschen ist die sexuelle Freiheit auch deshalb ein Zwang zum Sex, weil sie nichts anderes mehr zu tun haben, nichts anderes mehr müssen.
Früher begann die Liebe als ein Übergang von der Enge des Elternhauses in die Freiheit selbst gewählter Zweisamkeit, der eigenen Existenz, des eigenen Hauses. Die Liebe bedeutete einen Freiheitsgewinn , keinen Freiheitsverlust.
Heute soll die Liebe beginnen und gelingen als Übergang von der Einsamkeit in den Sex . Die freien Menschen, die jahrelang einsam waren, sind plötzlich mit einem Anderen, wie man sagt, sexuell vereinigt. Sie gehen aus der Weite ihrer Isolation in die Enge der sexuellen Vereinigung. Ihr Rausch besteht auch darin, einmal nicht frei zu sein. Die sexuelle Freiheit erlöst von der Freiheit der Existenz am Rande des Nichts. In ihr gibt es eine Augenblicksenge, die als Erlösung empfunden wird von der permanenten Freiheit und Einsamkeit des Lebens, der permanenten Ausbreitung des Nichts. Die existenzielle Freiheit zwingt die Menschen in den Sex.
[180] Sie stürzen sich in den Sex, ineinander, wie müde Kämpfer in den Clinch. Plötzlich können sie sich nicht mehr aufrecht halten, fürchten die Distanz, wollen nicht mehr kämpfen, nur einen Moment.
Die Menschen, die nach Liebesmöglichkeiten suchen, werden also überwältigt von Sexmöglichkeiten. Die absolute Liebesmöglichkeit ist zwangsläufig eine Sexmöglichkeit. Die romantische Liebe, das war Sehnsucht, also Aufschub von Sex, Verhinderung und Unmöglichkeit von Sex. Die Liebe bestand in ihrer eigenen Verhinderung, ihrer Unmöglichkeit. Wenn die Liebe dagegen zur absoluten, durch nichts mehr verhinderten, durch nichts mehr verzögerten Möglichkeit wird, wird sie zu Sex. Sex ist Liebe minus Zeit, eingestampft aufs Jetztsofort .
Die freien Menschen präsentieren deutlich ihren Körper und ihre ganze Person (auch wenn sie sich selbst dadurch fremd werden, wie ein anderer erscheinen); ihre
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