Das Ende der Liebe
Entscheidung zu vermeiden. Der Höhepunkt ist in Wahrheit kein Höhepunkt mehr, überhaupt kein Punkt, sondern eine Fläche, ein beliebiger Ausschnitt aus einer unendlichen Fläche: die Auswahl des Tages. Die Bilder wechseln jetzt rasend; ein außer Kontrolle geratener Diaprojektor, dessen Karussell sich dreht und dreht. Dann wird es dunkel. Die Menschen, die sich mutwillig der Unendlichkeit ausgesetzt haben, ziehen sich erschöpft zurück, auf sich selbst, ihr Innerstes: den Atem, die schwer werdenden Glieder.
Die freien Menschen leben zwischen extremer Expansion und extremer Kontraktion. Sie strecken sich, wie die Katze in der Sonne, um möglichst viele Strahlen der sexuellen Möglichkeiten auf ihrem Körper zu versammeln. Dann ziehen sie [176] sich zusammen, ruhen aus in der Dunkelheit. Sie finden ihre Lust als aufgespannte Segel, ihren Schlaf als reglose Knäuel.
Nur im Augenblick des Einschlafens sind die Menschen endlich einmal nicht mehr frei, erholen sie sich von der Unendlichkeit. Die Welt ist für einen Moment weit weg, der Fluss der Fantasie unterbrochen. Im Abspann ziehen nur noch die Namen der Beteiligten durch die Schwärze des Bewusstseins. Dann herrscht Ruhe. Welt und Fantasie sind erloschen, die Nachtvorstellung der Träume hat noch nicht begonnen.
Im Traum aber wird die unendliche Welt auferstehen, werden die Menschen wieder alle Möglichkeiten haben, werden irren von diesem zu jenem, der Erregung von gestern begegnen als der Erregung von heute.
Die Selbstbefriedigung der freien Menschen entwickelt sich im eigenen Raum – im eigenen Zimmer, in der eigenen Wohnung. Von Anfang an verfügen die Menschen über einen eigenen Raum, ein Zimmer für sich, eine eigene Wohnung. Jahre- und jahrzehntelang leben sie allein in eigenen Räumen. Jahrzehntelang gehen sie dort herum in ihren Gedanken und Fantasien. Die Menschen sind weniger geprägt von den Jahren im Elternhaus als von den Jahren, die danach gekommen sind, die schon begonnen haben im Elternhaus, den Jahren des Allein- und Für-sich-Seins. Nicht Eltern oder Schule haben die Menschen zutiefst geprägt, sondern das jahrelange Allein- und Für-sich-Sein, das nach der Kindheit und Schulzeit kam, bereits während der Kindheit und Schulzeit begann: im eigenen Kopf und eigenen Raum.
Der freie Mensch ist der immerzu denkende, fantasierende. Nichts und niemand unterbricht ihn in seinem Denken und Fantasieren. Kein Verbot hält ihn auf. Kein Mangel an Zeit treibt ihn an und nötigt ihn zu einem profanen, reinen Tun. [177] Keine Zerstreuung lenkt ihn ab von seiner Zerstreuung. Die Insassen eines Gefängnisses und die Menschen in einer total gewordenen Freiheit machen die gleiche Erfahrung: keine Außenwelt setzt ihrem Denken und Fantasieren mehr eine Grenze.
Im eigenen Raum streifen die Menschen über Jahre und Jahrzehnte alle äußeren Zwänge ab – und bilden ihre inneren aus. Wo ihnen keiner mehr sagt, was sie zu tun haben, wann sie etwas tun müssen und in welcher Weise, dort entwickeln die Menschen ihre Gewohnheiten und Süchte, Schwächen und Neurosen – denen sie ausgeliefert sind wie zuvor den äußeren Zwängen. Und auch das sind ja äußere Zwänge: Zwänge der Freiheit und Einsamkeit, des eigenen Raums.
Die ersten Lebensgefährten, die die freien Menschen haben, ihre nächsten Angehörigen, das sind ihre Gedanken und Fantasien. Die Familie, die zu Hause auf die Menschen wartet, sie auf furchtbare Weise bestraft und belohnt, mit wilden Rufen durchs Wohnzimmer scheucht und Zuflucht im Bett suchen lässt, das sind die Gedanken und Fantasien der Menschen.
Es sind ihre Erfolgsfantasien und Sexfantasien, ihre unendliche Erfolgshoffnung und unendliche Sexhoffnung, ihre Angst, hinter diesen immerzu zurückzubleiben, allein zu bleiben, ihre Hoffnung auf alles und Angst vor dem Nichts, vor der Arbeitslosigkeit, der Liebeslosigkeit. Die Menschen fliehen vor der Liebeslosigkeitsangst in die Arbeitshoffnung und vor der Arbeitslosigkeitsangst in ihre Sexfantasien – wie die Menschen einst von einem übel meinenden Verwandten in die Arme des nächsten geflohen sind. Im eigenen Raum fallen die Menschen sich selbst zum Opfer, sich selbst und ihren Möglichkeiten, wie sie einst, unter dem Dach der Familie, den Anderen zum Opfer gefallen sind, den Anderen und deren Macht.
[178] Wenn die Menschen auch draußen, im öffentlichen Raum, in ihre Sexmöglichkeiten stürzen, so deshalb, weil auch der jetzt ein eigener Raum ist – in dem die Menschen, wie einst
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