Das Ende der Liebe
Stillstands , der auch der Stillstand ihres Partners ist, der eben darum ihren Stillstand akzeptiert. Partnerschaft hieße also: gemeinsamer Stillstand und – im besten Fall – gemeinsame Akzeptanz des gemeinsamen Stillstands. Tatsächlich aber fürchten die freien Menschen eines noch mehr als den eigenen und gemeinsamen Stillstand mit einem Partner, der ihnen vollkommen gleicht. Es ist der Entwicklungsdruck und Entwicklungszwang, der ausgeht von einem Partner, der anders ist als sie, der ihr Lebensziel verkörpert. In Wahrheit können die freien Menschen also überhaupt nicht mit einem leben, der sich permanent bewegt, der ihr Lebensziel verkörpert, also ihre maximale Selbstüberschreitung ermöglicht. Die freien Menschen sehnen sich zwar pausenlos nach einem Menschen, der eine totale Herausforderung ihrer selbst wäre, doch wenn sie einen solchen Menschen treffen, nehmen sie Reißaus. Sie klagen immerzu über den Stillstand ihres Partners, sind aber zu Tode erschrocken, wenn sie einen Menschen [237] treffen, der sich immerzu bewegt. Sie sind unfähig, einen zu ertragen, der sich permanent über sie hinaus bewegt, der unendlich viel Energie und Disziplin hat, der ihren Idealen und Ideen gleicht, also anders ist als sie. Sie müssen mit einem leben, der lediglich die gleiche Vergangenheit und Gegenwart hat, die gleiche Erfahrung und die gleichen Interessen, nicht aber der Idee ihrer Zukunft gleicht. Sie schämen sich, dass sie offenbar »immer noch, um existieren zu können«, einen Anderen als Spiegel brauchen, als Heimat und Vergangenheitsgemeinschaft.
Sie sagen: »Ich brauche leider immer noch einen, der ist wie ich – der alles versteht, alles kennt, alles akzeptiert. Ich bin nicht fähig, mit einem zu leben, der anders ist als ich, dessen Kenntnis und Verständnis begrenzt sind, der stattdessen mich immerzu hinausführt über mich selbst, mich mich selbst überschreiten lässt. Ich brauche leider einen, der, wo ich schwach bin, auch schwach ist, der mir meine Ruhe lässt, meinen Stolz, meine Wohnung als Rückzugsort; der nicht aus meinem Rückzugsort einen Flughafen macht, von dem ich permanent abheben muss in höhere Sphären.«
Die freien Menschen wollen herausfinden aus dem Spiegelkabinett des Gleichen, Passenden, das das Bild der freien Menschen tausendfach zurückwirft , die freien Menschen aber niemals voranbringt , endlich in die Zukunft. Doch sie können es nicht. Sie können Menschen, die ihnen eine permanente Selbstüberschreitung ermöglichen würden, die sie tatsächlich, schon durch ihr Beispiel, unter den Druck permanenter Selbstüberschreitung setzen, nicht lieben, wie sie auch Menschen, die ihnen vollkommen gleich sind, also vor allem die gleichen Schwächen haben, nicht lieben können. Sie hassen Menschen, die sie permanent mit ihrem Ideal konfrontieren, wie sie Menschen hassen, die sie permanent mit ihrer Wirklichkeit konfrontieren. Sie sagen: »Im Vergleich zu dir sehe [238] ich immerzu erbärmlich aus.« Oder: »Deine Erbärmlichkeit ist eine furchtbare und unerträgliche Spiegelung und Verdoppelung meiner Erbärmlichkeit.«
Für die freien Menschen ist der Andere also entweder unausstehlich fremd und anders (verglichen mit den Gleichheitsmöglichkeiten) oder unausstehlich gleich (das heißt, er hat auch die gleichen Schwächen) oder er ist eine unausstehliche, permanente Herausforderung, nicht nur Unterstützung, sondern permanenter Unterstützungsterror . Die Menschen verklagen ihren Partner entweder auf unterlassene Hilfeleistung: »Du hilfst mir nicht, meine Freiheit zur Entwicklung zu nutzen.« Oder auf Nötigung: »Allein deine Gegenwart nötigt mich permanent dazu, meine Freiheit zu nutzen. Du sagst: ›Du musst deine Depression endlich überwinden. Du musst handeln, mehr wagen. Du musst deine Möglichkeiten ausschöpfen. Du darfst deine Freiheit nicht ungenutzt lassen. Du musst sie restlos nutzen. Jede Chance. In jeder Minute. Hör auf, herumzusitzen! Hör auf, Zigaretten zu rauchen! Hör auf, fernzusehen!‹. Es kommt mir vor, als sei ich mit der Gesellschaft selbst verheiratet.«
Für die Menschen ist der Andere also entweder eine permanente Enttäuschung – weil er anders ist oder weil er die gleichen Schwächen hat; oder er ist eine permanente Demütigung, weil er das leibgewordene Ideal ist, die Freiheit in Person . Entweder ist die Sehnsucht das Unerträglichste oder die Scham. Die Menschen sagen: »Deine permanente Unterstützung ist tatsächlich meine Unterdrückung
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