Das Ende der Liebe
gestellten fallen, wenn er sich an ihm emporgewunden hat. Das Mädchen vom Land verführt Don Juan – und lässt ihn fallen, sobald es mit seiner Hilfe sich in der Stadt etabliert hat.
Die freien Menschen lassen sich eine Räuberleiter geben, um auf das nächste Niveau zu gelangen, lassen sich, ein Stück des Weges, Huckepack tragen. Dann springen sie ab. Don Juan wird ausgenutzt und überschritten von einer Donna Juana (und umgekehrt).
Sobald die Lern- und Inspirationsmöglichkeiten, Therapie- und Heilungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, alle Erleuchtung des Einen übergegangen ist auf den Anderen, lässt dieser jenen fallen – und macht sich wieder auf die Suche: nach dem nächsten Träger und Lehrer, dem, wie man im Englischen doppelsinnig sagen kann, nächsten lift . Die freien Menschen suchen die Liebe als Mitfahrgelegenheit und Fahrstuhlliebe.
[232] Sie sind, wohlgemerkt, nicht gelenkt von Kalkül, sondern von Gefühl. Vielmehr, Gefühl und Kalkül sind eins. Jedes Gefühl ist ein Gedanke. Der Gedanke: »Du sollst das Ziel meines Weges sein.« Genauer: »Du sollst derjenige unter allen vergangenen und möglichen Partnern sein, der mich meinem Lebensziel am schnellsten näher bringt.« Die freien Menschen sind in der Liebe keine kalten Nutzenmaximierer, sondern ihr Gefühl ist die Hoffnung auf ein anderes Leben, die Hoffnung auf Entwicklung. Es will die Gewissheit sein, das Richtige zu tun. Alle Interessen kommen von Herzen, durchlaufen das Herz.
Die Menschen können aber bei keinem anderen mehr ankommen (wie Werther bei Lotte und in Lottes Welt). Denn ihre Sehnsucht gilt der Bewegung an sich , Entwicklung an sich. Ihre Sehnsucht gilt keiner Welt mehr, keiner Stadt und keinem Land, keiner Gruppe von Menschen. Sie hat sich verlagert von allem Äußeren auf das Selbst, und das Selbst ist nun: unendliche Selbstüberschreitung. Es ist kein unveränderlicher Wesenskern, sondern seine Möglichkeiten .
Die Menschen wollen ihr Selbst, wie sie sagen, finden, entwickeln, entfalten. Es ist für sich selbst Potential – und Widerstand. Wie ein Ballon, der mit leichtem Gas gefüllt ist, drängt es aufwärts, ist es in ständig steigender Bewegung – oder aber in seiner Bewegung gehemmt durch einen Widerstand, der, so denken die Menschen, wiederum in ihrem Selbst zu finden ist. Jede Blockade ist für sie eine Selbstblockade, jeder Misserfolg ein selbstverschuldeter Misserfolg. Die Menschen sagen: »Ich habe den größten Veränderungswillen, aber keine Veränderungsenergie, keine Veränderungsdisziplin, keine Veränderungsgeduld.« Sie haben die Seele ersetzt durch das Selbst, also das Unveränderliche durch das Veränderungswillige und Veränderungsbedürftige.
[233] Früher wollten die Menschen sich mittels der Liebe eine Existenz schaffen. Die freien Menschen dagegen wollen sich mittels der Liebe entwickeln, sich selbst überschreiten. Sie verfolgen mit der Liebe ebenfalls einen Zweck, doch dieser Zweck liegt nicht mehr in der Welt, sondern in ihrem Selbst, er ist ein unendlicher innerer Prozess, nichts, was in Objekten (einem Zuhause, einem Kind oder auch nur in den ideellen Objekten einer Zweisamkeit, einer Geborgenheit) zur Ruhe kommen könnte.
Die freien Menschen denken sich das Glück als Entwicklung, nicht als Existenz. Sie denken es sich als sexuelle Ekstase und als Ekstase der Selbstüberschreitung, als Aus-sich-Heraustreten durch Lernen und Selbstverbesserung.
Es ist eine Ekstase nicht durch Genuss, sondern durch Arbeit, ein extrem anstrengendes, permanentes Aus-sich-Heraustreten durch Bildung, Training, Therapie. Dennoch kennt auch die Ekstase der Selbstüberschreitung ihren Rausch. Die freien Menschen fantasieren permanent, während sie – mit Hilfe des Anderen oder gegen die Trägheit des Anderen – an sich selbst arbeiten, von ihrem großen Tag . Sie befriedigen sich selbst mittels der Fantasie von ihrem Endlich-ich-selbst-Werden. In der Fantasie erleben sie den großen Tag jeden Tag. Sie arbeiten pausenlos an ihrem Selbst wie ein Ingenieur an einer Flugkonstruktion, fantasierend von dem großen Tag, da die Konstruktion, das neue Selbst, endlich vor aller Augen in die Lüfte steigt, das geheilte und gereifte, das neue Unternehmer- und Künstlerselbst.
Die Menschen lieben den Anderen nicht, denn er hindert sie, in die Lüfte zu steigen, unterstützt sie nicht in der denkbar größten Weise. Sie sehen jede Existenz als Gefahr für ihre Entwicklung. Sie sind bereit, jede Existenz für ihre
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