Das Ende der Liebe
Wahnsinns in die Gesellschaft ein, wie viele revolutionäre Ideen. Doch irgendwann galt sie als gesund, normal, wurde selbst zur Sitte – wurde erwartet von den Eltern, der Gesellschaft. Jetzt aber, in der unendlichen Freiheit, gilt sie wieder als Krankheit. Doch sie ist, im Gegensatz zur Romantik, keine geliebte Krankheit mehr. Die Menschen wollen endlich gesund werden. Sie sehen in Liebesleid und Liebesrausch nicht mehr den Ausdruck ihrer Seele, sonden den Verlust ihres Selbst.
Sie sagen: »Ich war im Rausch. Ich hatte den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Ich war nicht mehr ich selbst.« Sie sagen: »Das war keine Liebe, nur eine Erregung. Nur ein Schönheitsrausch.« Sie sagen: »Das war keine Liebe, nur eine romantische Situation. Es war die Stadt. Es war der Sommer.«
Die Menschen wollen ihr Bewusstsein befreien. Denn sie haben die Krankheit der Liebe verstanden. Sie wissen, dass sich in der Liebe nicht das Göttliche offenbart, sondern ihre Neurose, ihr Zwang.
Früher glaubten die Menschen, dass die Richtigen, füreinander Bestimmten sich mit Notwendigkeit finden würden. Die freien Menschen dagegen glauben, dass sich mit Notwendigkeit nur die Falschen finden. Der Unterwürfige findet den Machtbesessenen, der Machtbesessene den Unterwürfigen. Der Narzisst findet den Bewunderungssüchtigen, der Bewunderungssüchtige den Narzissten. Der Mensch, der immerzu [245] um die Liebe eines Herzenskalten kämpfen will, findet einen Herzenskalten. Der Mensch, der die Liebe an der Gewalt zu erkennen glaubt, findet einen, der ihm Gewalt antut. Der Mensch, der Kind geblieben ist, findet einen Kümmerer, Vater, Mutter; der Kümmerer findet ein Kind.
Die Menschen wissen: Es gibt nichts Furchtbareres als einen Partner, der sich ihnen mit Notwendigkeit aufdrängt, der ein Schicksal für sie ist, der ihrem Schicksal entspricht. Sie sagen: »Jede Anziehung beruht auf einer Krankheit der Seele.«
Die Menschen wollen ihrem Schicksal nicht in die Arme laufen, sondern ihm entfliehen: ihrem Klassenschicksal, Kulturschicksal, Geschlechtsschicksal, Familienschicksal, Seelenschicksal, Liebesschicksal. Die Menschen wissen: Alle Partner, die für sie eine Notwendigkeit gewesen sind, sind eine Katastrophe gewesen. Alle Partner, die sie wahrhaftig und leidenschaftlich geliebt haben, haben zu ihnen auf die furchtbarste Weise gepasst: zu ihren Verletzungen, Schwächen und Abhängigkeiten. Die Menschen sagen: »Es gibt nichts Schlimmeres, als zu finden, was man sucht. Denn was in mir sucht, das ist meine Neurose.«
Der Schicksalspartner, die sogenannte große Liebe, hat die Menschen früher in einen Strudel gezogen, der alles mit sich riss. Dieser geliebte Mensch, der ihr Schicksal war, ist ihre Zerstörung gewesen. Einen Partner frei zu wählen, das heißt für die Menschen, sich gegen ihr Schicksal zu entscheiden. Das freie Bewusstsein hat das Schicksal durchschaut.
Jahrtausendelang haben die Menschen versucht, die Welt und das Sein zu denken, deren Sinn oder Nichtsinn. Sie haben es mit Hilfe des reinen Denkens versucht, in der Metaphysik und mit Hilfe der Naturwissenschaft. Auch das Bewusstsein haben sie auf diese Weise gedacht. Sie sagten: »Das Bewusstsein [246] muss alles, was es darstellt, in Raum und Zeit darstellen. Raum und Zeit sind nicht in der Welt, sondern im Bewusstsein.« Oder: »Das Bewusstsein ist immer das Bewusstsein von etwas . Es gibt kein Bewusstsein an sich, sondern nur das Bewusstsein von einem Hammer, von einem Tisch.«
Das Bewusstsein konnte Karriere machen: von der bloßen Spiegelung der Dinge bis zur Selbstreflexion, zum absoluten Wissen.
Dann geschah etwas Neues. Das Bewusstsein selbst wurde zum Ding, das gewissermaßen naturwissenschaftlich untersucht wurde. Diese Wissenschaften des Bewusstseins hießen Soziologie und Psychologie . Aus dem Bewusstsein wurde nun eine Vielzahl unterschiedlicher, je persönlicher Bewusstseine. Jeder Mensch hatte nun ein anderes, je nach Klasse und Geschlecht, je nach Kindheit und Umwelt, ja, jeder Mensch hatte zu jedem Zeitpunkt, in jeder Situation ein anderes.
Die Menschen mussten erkennen, dass Vorurteile und Ressentiments das Bewusstsein bestimmen; dass das Sein das Bewusstsein bestimmt – die eigene Herkunft und das eigene Milieu, die herrschende Ordnung und sogenannte Gruppendynamik, die Medien, die Werbung und Sprache, die Bewusstseinsindustrie; dass das Unbewusste das Bewusstsein bestimmt – die persönliche Vergangenheit, deren Lehren und Komplexe; dass die
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