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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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Bewusstsein, von dem die freien Menschen sich doch ihre Befreiung erhofften, hält sie gefangen am steilen Hang der Selbstreflexion.
    Die Menschen sagen: »Anstatt mich weiterzuentwickeln, habe ich jahrelang nur nachgedacht. Statt unterwegs zu sein, habe ich herumgesessen und herumgelegen. Immerzu sitze und liege ich herum und denke über mich nach, anstatt mich zu bewegen. Ich tue nichts. Ich liebe nicht. Meine Geistestätigkeit richtet sich immer wieder nur auf meine Geistestätigkeit. Sie rollt immer wieder an ihren eigenen Anfang zurück.«
    Die freien Menschen analysieren nicht nur sich selbst und den Anderen in der Liebe. Sie analysieren auch bereits das, was sie suchen. Darum lehnen sie nicht nur die Liebe ab, [257] nicht nur sich selbst in der Liebe, sondern bereits sich selbst als Noch-Suchende , den Anderen als Noch-Gesuchten .
    Das Bewusstsein arbeitet sich also nicht nur an jedem Gefundenen ab und entlarvt ihn als problematische Psyche, die eigene Begeisterung als Projektion und Idealisierung, sondern es arbeitet sich bereits am Gesuchten ab und an sich selbst als suchendem Bewusstsein. Die Enttäuschung über den gesuchten Anderen kommt bereits vor dem Finden , vor der Erfüllung.
    Die Menschen leben so lange mit der Hydra zusammen, mit dem Bildnis ihres Gesuchten, dass sie die Hydra kennen wie einen Ehepartner nach zehn Jahren Ehe. Die Hydra ist ihnen seit Jahren vertraut und bekannt. Die Menschen sagen: »Was ich suche, ist ein peinliches Klischee. Der Gesuchte ist ein Ausdruck meines kranken Unbewussten, ein Ausdruck des Schönheitsideals und Aufstiegsideals der Gesellschaft, ein pornografisch-karrieristisches Monster. Ich bin ein Viktor Frankenstein der Liebe. Ich habe aus allen Liebesmöglichkeiten ein Monstrum der Unendlichkeit geschaffen.«
    Die Menschen treffen also entweder Menschen, die von ihrem Ideal abweichen und ihnen also fremd sind, oder sie treffen Menschen, die ihrem Ideal, der Hydra nahe kommen, und ihnen deshalb peinlich sind. Sie wenden Psychologie, Soziologie und Ästhetik auch auf die Hydra an und kommen zu einem verheerenden Ergebnis. Wenn sie jemanden finden, der ihrer Hydra zu entsprechen scheint, denken sie: »Er ist kein Original, nur eine Kopie meiner Wünsche, ein Klischee meines Bewusstseins.« Allein die Tatsache, dass sie finden, was sie suchen, verleidet ihnen das Gefundene als faden Abklatsch.
    Die Menschen schämen sich also, wenn sie einen finden, der ihrer Hydra zu entsprechen scheint. Sie denken: »Wenn mich jemand mit meinem Traumpartner sähe, hielte [258] er mich für ein Opfer meiner Projektionen; ein Opfer der Mode, der Bewusstseinsindustrie.« Die freien Menschen haben alle Träume pathologisiert. Sie haben alle Träume einer psychologischen, soziologischen und ästhetischen Kritik unterzogen.
    Sie sagen: »Wer seine Träume verwirklicht, verwirklicht tatsächlich seine Neurose, die Botschaften der Werbung. Wer Träume verwirklicht, verwirklicht Klischees.« Sie sagen: »Es kommt mir vor, als schliefe ich nicht mit einem echten Menschen, sondern mit meiner eigenen, kranken Fantasie, meiner Neurose, meiner Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen. Ich missbrauche den Anderen, um mit meiner Fantasie zu schlafen.«
    Das Paradox der Suche lautet also: Die Menschen verschleißen das, was sie suchen, noch bevor sie es finden können. Sie leben bereits mit dem Gesuchten, und das Gesuchte wird ihnen vertraut und bekannt. Das Gesuchte wird abgenutzt von einem Bewusstsein, das sich ein Bildnis seiner Wünsche machen und die Ursachen dieser Wünsche kennen will. Immer wenn das Bewusstsein sich ein Bild von dem macht, was es sich wünscht, malt es die angenommenen Ursachen mit ins Bild, sogar noch größer als den Wunsch selbst – so dass es am Ende nicht mehr die Verwirklichung eines Wunsches wahrnimmt, sondern nur die Verwirklichung der – beschämenden – Ursachen seines Wunsches. Also hassen die freien Menschen alles, was sie suchen.
    Lieben könnten sie dagegen nur das, was sie nicht gesucht haben, was sie nicht wollen, also nicht lieben. Der Geliebte dürfte gerade nicht der Gesuchte, sondern müsste ganz anders sein, das Gegenteil.
    Der Geliebte wäre nur dann ein wahrhaftiges Original, wenn er nicht der Gesuchte wäre, keine Kopie des Gesuchten. [259] Er dürfte nicht der Vorstellung entsprechen, sondern müsste die Menschen überraschen, unerwartet sein. Er müsste anders aussehen, etwas anderes tun, woanders leben. Nur dann hätte er nicht dieses, wie die

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