Das Ende der Liebe
Geliebter aber muss, zu einem gewissen Grad, undurchschaubar bleiben, undurchdringlicher Schein. Nur derjenige kann schön sein, kann erregen und etwas symbolisieren, der seine Oberfläche bewahrt, der nicht durchschaut wird.
Faszination richtet sich immer auf eine Oberfläche, auf eine Geste, nicht auf deren Grund. Ein Stein kann nur dann ein erregendes Objekt sein – Skulptur, Talisman, Monument –, wenn er nicht transparent ist, seine steinerne, kristalline Struktur nicht offenbart, sondern verbirgt. Er muss seine Oberfläche bewahren. So ist auch mit den Gesichtern von Menschen im Film und auf Fotos. Sie bleiben Oberfläche – also schön, faszinierend, erregend, symbolisch. Jedes reale Gesicht aber durchschauen die freien Menschen sofort. (Und viele Leute gehen heute überhaupt ohne ein Gesicht in der Welt herum, eben weil sie jedes Gesicht als Fassade und Maske begreifen.)
Die freien Menschen lieben den schönen Schein, das Charismatische und Glamouröse, das Coole und Erotische, das Wilde und Impulsive – und zugleich sind sie gezwungen, jeden Schein zu durchschauen, jeden Schein als Fassade und Dummheit zu begreifen. Was sie fasziniert und erregt, ist gerade das Nicht-Authentische, Nicht-Ironische, Absolute. Doch ihr freies Bewusstsein fordert, dass der Andere authentisch [265] sei, nicht aufgesetzt , dass er keine Rolle spiele, kein Kostüm und keine Maske trage, dass er erdverbunden, rational und ironisch sei; dass er »Sinn für die Realität« habe, sich »nicht allzu ernst« nehme. So kommt es, dass jeder sogenannte Traumpartner vor den Menschen bald buchstäblich sein Gesicht verliert ; dass die Menschen stattdessen einen suchen, der überhaupt kein Gesicht hat, der zwar nicht schön ist, dessen Psyche aber reibungslos läuft.
Die Menschen fallen also nicht nur in den Anderen hinein, weil diesem als Sexmöglichkeit nichts mehr entgegensteht, sondern auch, weil dem eigenen Blick nichts mehr entgegensteht, den eigenen Erkenntnismöglichkeiten; weil ihr Blick alles durchschaut. Sie sagen: »Dieser Mann ist gar nicht schön, sondern er ist eitel. Er ist nicht sexy, sondern er versucht bloß , sexy zu sein. Er will seine Unsicherheit überspielen. Er ist nicht cool, sondern tut nur so.« Die freien Menschen können keinen Anderen mehr ernst nehmen und auch nicht sich selbst. Sie betrachten alles ironisch, als bloße Fassade. Sie verlieren nicht nur die sexuelle, sondern auch die geistige Distanz. Die Muster und Mechanismen des Anderen sind ihnen so zugänglich wie sein Körper. Sie stürzen nicht nur in den Ekel, weil sie in den Körper des Anderen stürzen, sondern auch, weil sie in seine Psyche stürzen.
Sie sagen: »Seine Schönheit ist ein Zeichen von Dummheit , seiner Wiederholung von Klischees. Er will aussehen wie einer dieser Männer im Film. Seine Schönheit zeigt, dass er an traditionellen Männlichkeitsidealen festhält.« Sie sagen: »Die Schönheit dieser Frau zeigt, dass sie schwach ist, dass sie an traditionellen Weiblichkeitsidealen festhält. Sie folgt immer nur dem Trend. Wer sich so schön macht, der muss oberflächlich sein.«
Die freien Menschen verurteilen jedes Beharren auf einer [266] Oberfläche als oberflächlich. Sie halten jeder Oberfläche deren tiefere, also niedere Gründe entgegen. Sie haben die Fähigkeit verloren, den Schein anzubeten. Sie können tiefe Gefühle nicht mehr haben, weil diese sich stets auf eine Oberfläche richten.
Es ist allerdings nicht nur so, dass die freien Menschen ein gesteigertes Bewusstsein von der Künstlichkeit und Gemachtheit des Charakters entwickelt haben; sondern Künstlichkeit und Gemachtheit des Menschen haben tatsächlich eine Steigerung erfahren – wenn auch nur in einer Hinsicht. Die Institutionen des Staates, der Kirche, der Familie haben den Menschen zwar immer schon geprägt und aus ihm ein Kunstwesen gemacht. Doch diese Macht war wesentlich eine Macht zur Unterdrückung von Wünschen. Heute dagegen benutzen die Institutionen (Schulen, Universitäten, Zeitungen und Fernsehsender) ihre Macht bekanntlich vor allem dazu, Wünsche zu schaffen . Und sie zielen nicht mehr nur auf die öffentlichen Leidenschaften (wie in den großen totalitären Systemen), sondern vor allem auf die privaten. Die Menschen werden nicht mehr angestachelt, »mehr Lebensraum im Osten« zu wünschen, sondern eine größere Wohnung . Sie sollen keinen Führer lieben, sondern ein Model, einen Star. Die Medien, die Mode-, Werbe-, Film- und Pornoindustrie –
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