Das Ende der Liebe
einzigartig sein wollen.
Das Versinken im Selbst hat also zwei Gründe. Die freien Menschen, die darauf aus sind, in der unendlichen Welt einen zu Liebenden zu entdecken, müssen sich nicht nur fragen, was sie suchen und was sie wollen; sie müssen nicht nur deshalb immerzu sich selbst betrachten, weil sie selbst das wichtigste Instrument ihrer Suche sind, der Köder, der einen zu Liebenden anlocken soll – sondern sie fragen sich auch, warum sie suchen, was sie suchen, warum sie wollen, was sie wollen; warum sie sich selbst so oder so präsentieren.
Sie fragen sich, was ihre Liebesziele und Liebesmethoden über sie selbst sagen, ob sie neurotisch sind, narzisstisch, manipuliert. Naturgemäß antworten die freien Menschen mit ja . Wenn sie schon unter dem Einfluss von Mustern und Mechanismen stehen, soll wenigstens ihr Bewusstsein die Kontrolle über ihre Diagnose behalten. Das Schlimmste über sich selbst selbst zu denken und es sich also nicht von anderen vorhalten lassen zu müssen, ist die letzte Möglichkeit, eine Freiheit zu behaupten, die dem eigenen Bewusstsein immerzu als vordergründig, als bloße Täuschung erscheint.
So fallen die Menschen, die eigentlich einen Anderen entdecken wollten, hinein in sich selbst, also in eine Depression, also: in ihr unendliches, unendlich-kritisches, also vernichtendes Selbstbewusstsein. In der Freiheit ist auch die Möglichkeit der Selbstbespiegelung absolut. Alle wissenschaftlichen Werkzeuge liegen bereit; nichts und niemand unterbricht die Selbstbespiegelung der Menschen, hält sie vom Nachdenken über sich selbst ab. Allein im eigenen Raum fallen sie hinein in die Möglichkeit der Selbstbespiegelung (wie sie ständig hineinfallen in die Möglichkeit der Selbstbefriedigung). Sie [255] denken immerzu über sich selbst nach und kommen zu einem furchtbaren Ergebnis.
Die Menschen müssen pausenlos sich selbst betrachten und sind alarmiert – denn das Bewusstsein, im Innersten, im eigenen Kopf, nicht die Kontrolle zu haben, ist ein furchtbares Bewusstsein: Wie soll man leben, wenn ausgerechnet in der eigenen Wahrnehmung, im eigenen Wollen der Wurm drinsteckt?
Nachdenken über sich selbst bedeutet: Die Menschen wiederholen in Gedanken endlos, was sie getan haben – und beobachten sich bei diesem Tun. Sie machen sich zu einer Romanfigur in ihrem Kopf, lassen diese Figur immer wieder dasselbe tun und beobachten diese Figur, also sich selbst dabei.
Nachdenken über sich selbst ist ein Roman ohne Handlungsfortschritt. Der Held ist dazu verdammt, immer und immer wieder dasselbe zu tun. Er weiß nicht, dass der Sinn seiner Wiederholungen darin besteht, dass ein Bewusstsein ihn dabei beobachtet und versucht, zu wissenschaftlichen Schlüssen über seine Muster und Mechanismen zu gelangen.
Nachdenken über sich selbst, das bedeutet, dass der Mensch zerfällt in diese absurde Figur, die gezwungen ist, die eigene Vergangenheit endlos und ohne die geringste Abweichung zu wiederholen, und ein Bewusstsein, das dieser Wiederholung mit wissenschaftlichem Interesse zusieht.
Die Menschen, die eigentlich alle Bewegungs- und Selbstverbesserungsmöglichkeiten wahrnehmen wollen, nehmen andererseits alle Bewusstseins- und Selbstreflexionsmöglichkeiten wahr und halten eben dadurch ihre Bewegung auf. Sie kommen zum Stillstand. Sie wollen zwar über sich selbst nachdenken, um sich zu verbessern , sich schneller und besser bewegen zu können . Tatsächlich aber führen die Bewusstseinsmöglichkeiten der Menschen notwendig zum Stillstand, [256] zum Anhalten aller Bewegung. Jahre- und jahrzehntelang unterbrechen die Menschen ihre Selbstbewegung und wiederholen alles Vergangene im Kopf, um mehr Selbstbewusstsein zu erlangen, alle Bewusstseinsmöglichkeiten auszuschöpfen. Die Menschen springen ab von der unendlichen Leiter ihrer Entwicklungsmöglichkeiten und versteinern zum Denker, unbeweglich sitzend und nachdenkend über sich selbst. Sie liegen auf der Analysecouch, bereit zur endlosen Selbstwiederholung im Kopf, zum Erinnern , Wiederholen , Durcharbeiten .
Der Mythos des Sisyphos bekommt jetzt eine andere Bedeutung. Er zeigt nun einen Menschen, der gezwungen ist, das bisher Getane endlos in Gedanken zu wiederholen, sein vergangenes Ich wieder und wieder den Berg hochzurollen, nachdenkend. Der Stein, den er rollt, ist tatsächlich sein Persönlichstes: sein Trauma, sein Charakter, seine Wiederholung. Das Absurde seines Lebens ereignet sich nicht mehr in der Welt, sondern im Bewusstsein. Das
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