Das Ende der Liebe
sie, sich an dessen Kunst anzupassen, wenn er kein Künstler ist, an dessen Kunstlosigkeit.
Der Künstler fürchtet sich pausenlos vor der Gesellschaft, vor jeder Gruppe, jeder Begegnung. Jeder Einfluss soll ein selbst gesuchter, selbst gewählter sein. Jedes Idol soll ein selbst gewähltes Idol sein – und damit eher Folge und Ausdruck der eigenen künstlerischen Entwicklung als deren Anlass und Ursache. Auch der verehrteste Lehrer darf den Menschen nichts mehr beibringen, sie nicht beeinflussen, sondern nur die Entwicklung ihres einzigartigen und originellen Selbst herausfordern . Wie die Künstler als freie Menschen im Speziellen, so haben die freien Menschen mit Künstlerideal im Allgemeinen permanent die Furcht, nur das Vergangene zu wiederholen, kein Original zu sein, nur die Kopie anderer.
Die Menschen betrachten sich selbst also als Kunstwerk . Und tatsächlich: Sie haben ja sich selbst erschaffen, sich erfunden. Ihr Leben ist ihr Werk, die Folge freien Wählens. Sie haben ihre Zukunft gewählt wie der Künstler seine Farbe. Sie wollen, wie der Künstler, immer konsequent sein, ihr Werk, also Leben, bis ans Ende seiner Möglichkeiten treiben. Sie wollen die restlose Realisierung ihres Selbst. Sie wollen originell sein, frei von Wiederholung. Sie wollen keine Klischees produzieren, keinen Kitsch. Selbständigkeit und Einzigartigkeit, Unabhängigkeit und Originalität, stete Entwicklung – die Bewusstseinsideale der Menschen sind Kunstideale. Vielmehr, die Ideale der Kunst entsprechen einem Bewusstsein, das sich selbst wissenschaftlich analysiert, dass totale Beeinflussung [250] erkennt und sich davon befreien will. Die Ideale der Kunst entsprechen den Menschen, die sie selbst erschaffen, ihr Leben zur Kunst machen wollen.
So folgt aus der unendlichen Freiheit auch, dass die Menschen sich selbst nach künstlerischen Maßstäben beurteilen, den Maßstäben der Ästhetik. Alles, was sie tun, und alles, was sie sagen, beurteilen sie wie ein Kunst- oder Literaturkritiker, ein Kunst- oder Literaturwissenschaftler. Nicht nur die Soziologie und die Psychologie wenden sie gnadenlos auf sich selbst an, sondern auch die Kunst- und Literaturwissenschaft. Sie sagen: »Die Liebe ist, in allen ihren Formen, eine Wiederholung, ein Klischee. Alle romantischen Situationen sind längst bekannt, nur Klischees.«
In einem Roman schreibt eine Frau einem Mann eine Email, in der sie seinen Vorschlag, augenblicklich bei ihm vorbeizukommen, zurückweist. Sie schreibt: »Sie sind vermutlich noch ein bisschen rauschig von der Vornacht, also unheimlich ›in Stimmung‹. Sie suchen Nähe. Sie wollen Marlene vergessen beziehungsweise vergessen machen. Und Sie haben genügend Bücher dieser Art gelesen und einschlägige Filmszenen gesehen, letzte Tangos mit Marlon Brandos und so. Leo, diese Szenen kenne ich auch: ER sieht SIE zum ersten Mal, möglichst im Halbdunkel, damit auch das schön ist, was vielleicht nicht so schön ist. Und dann fällt kein einziges Wort mehr, nur noch Gewand. Wie knapp vorm Verhungern fallen sie übereinander her, sparen nichts aus, wälzen sich stundenlang über die Wohnlandschaften. Kameraschnitt. Das nächste Bild: Er liegt auf dem Rücken, über seine Lippen huscht ein frivoles Lächeln, die Augen ruhen im lasziven Blick auf die Zimmerdecke, als wollte er auch diese noch vernaschen. Sie liegt mit dem Kopf auf seiner Brust. Befriedigt wie eine Hirschkuh nach dem Durchzug eines Rudels brunftiger [251] Böcke. Vielleicht bläst noch einer der beiden Zigarettenrauch durch die Nasenlöcher. Und dann wird dezent ausgeblendet.«
In einer Erzählung werden die Gedanken eines Mannes beschrieben, den die jüngere Schwester einer ehemaligen Mitbewohnerin seiner Frau zu verführen versucht, indem sie ihm ihre Brüste zeigt: »Die Schwester mit den Brüsten steht neben dem Bett und sieht ihn geradewegs und mit einem schwachen Lächeln an, ein Lächeln, verheißungsvoll, medienerfahren. (…) Ihr Gesichtsausdruck stammt direkt von Seite 18 des Dessouskatalogs von Victoria’s Secrets . Sie ist, denkt er, der Typ Frau, die ihre Highheels anlässt, wenn er sie darum bittet. Selbst wenn sie noch nie ihre Highheels angelassen hätte, würde sie ihm ein wissendes, verheißungsvolles Lächeln schenken, siehe Seite 18. Durch die Körperdrehung beim Schließen der Tür wird flüchtig ihr Profil sichtbar, die Form ihrer Brust, unten eine Halbkugel, oben eine Sprungschanze. Die träge Bewegung schwitzt vor tieferer Bedeutung.
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