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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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Er merkt auf einmal, dass sie eine Szene aus einem ihrer Lieblingsfilme nachspielt.«
    Ein Denker sagt: Die Liebe ist ein Serienprodukt. »Wir entkommen den Formen nicht, den Werten, den Regeln, der totalen Kultur.«
    Einst war die Sprache der Liebe eine erste Sprache, eine Umgangs-, keine Fach- und Metasprache. Die Menschen sagten: »Sie ruft nicht an.« Oder: »Er ist schön.« Die freien Menschen dagegen sprechen über die Liebe immer und von Anfang an in einer Fachsprache, einer Metasprache. Ihre Umgangssprache ist eine Fachsprache, psychologisch, soziologisch und ästhetisch. Sie sagen: »Du suchst Nähe.« Oder: »Du willst vergessen.« [252] Oder: »Die Liebe ist ein Serienprodukt.« Sie sagen: »Ihr Lächeln stammt aus einem Dessouskatalog.«
    Die Menschen erklären, anstatt zu beschreiben. Das Problem besteht nicht darin, dass die Liebe ein Serienprodukt ist , sondern darin, dass die Menschen es wissen , es wissen wollen, dass in diesem Wissen ihr ganzer Stolz liegt – und zugleich ihre Schmach. Solange sie versuchen zu lieben, entkommen sie ihrem Bewusstsein nicht, dass sie ein Serienprodukt herstellen, ihrem totalen Bewusstsein der totalen Kultur.
    Die Menschen finden in sich selbst immer zugleich ein Gefühl vor und eine Theorie zu diesem Gefühl , eine Gefühlstheorie und ein Theoriegefühl. Das Theoriegefühl ist das vage Gefühl, von etwas Unfassbarem, Ungreifbarem gesteuert zu werden; jedes Wort im Kopf setzt sich selbst in Anführungszeichen; gleichzeitig meinen die Menschen jedoch zu wissen, was sie da steuert. Sie kennen – mindestens – eine passende Theorie, und erfahren also nicht nur die Ohnmacht, gesteuert zu werden, sondern auch die Überlegenheit dessen, der Bescheid weiß, eingeweiht ist. Mit einem Wort: Es ist der Zustand des Paranoikers, der seine furchtbare Ohnmacht und Entwirklichung verkehrt in die Macht des Wissenden, Eingeweihten, der die wahre Wirklichkeit kennt.
    Psychisches Erleben und psychologisches Denken fallen in eins. Jedes Gefühl wird aufgehoben von dem Satz: »Dieses Gefühl habe ich nur, weil …« Die Menschen ziehen die Liebe in Zweifel wie die Nichtliebe. Sie sagen: »Vielleicht liebe ich in Wahrheit doch, und meine Liebe ist nur blockiert aufgrund eines Abwehrmechanismus.« Nichts ist, was es ist. Jede Realität wird zum Schein, jede Wirklichkeit reduziert zur Möglichkeit: »Vielleicht sind meine wahren Gefühle ganz andere, vielleicht habe ich sie unterdrückt.« Außer Zweifel steht nur, dass nichts ist, was es ist; dass alles einem versteckten [253] Muster folgt. Die Scham der freien Menschen gleicht der Scham des Sündenfalls, sie ist Erkenntnisscham. Doch die Menschen schämen sich nicht ihrer Nacktheit, sondern ihrer Künstlichkeit, ihrer Gemachtheit. Sie schämen sich ihrer Rollen und Prägungen , der Skripte in ihrem Kopf. Die Sprache der Liebe ist zur Metasprache geworden, also zu einer Sprache der Scham, also einer Sprache der Nichtliebe.
    Die Scham der freien Menschen entsteht aus der Kluft zwischen ihrem Freiheitsanspruch und ihrem Bewusstsein, das die Freiheit permanent als frommen Wunsch bloßstellt. Es ist eine psychologische Scham – über die eigenen Neurosen und Blockaden; eine soziologische Scham – über die eigenen Anpassungen und Fassaden ; und eine ästhetische Scham – über das eigene Kopieren und Wiederholen.
    Die Menschen wollen gerne glauben, dass sie auch im Innersten frei sind, in ihrem Denken und Fühlen. Die Freiheit ihres Bewusstseins ist ihr Stolz. Zugleich entdecken sie aber permanent, dass sie unfrei sind, nur Marionetten. Sie empfinden die Scham derer, deren Freiheit sich unvermittelt als Täuschung entpuppt – vergleichbar dem Angestellten, der eine Besprechung leitet und blamiert wird von dem plötzlich auftretenden Chef, der ihm vor den Kollegen das Wort entreißt und das Gegenteil bestimmt. Die Erkenntnis der eigenen Determiniertheit durch das Unbewusste und die Gesellschaft ist dieser plötzlich auftretende Chef, der diabolus ex machina , der die Menschen immerzu lächerlich macht, weil er ihre Freiheit als Täuschung entlarvt.
    Die freien Menschen erfahren sich selbst als lächerliche Menschen. Nicht nur, weil sie meinen, stets über die eigenen Beine zu fallen, sie jede Blockade als Selbstblockade wahrnehmen, jeden Widerstand als inneren Widerstand, sondern auch, weil sie in ihrem Freiheitsanspruch permanent [254] scheitern, sich als Marionetten und Kopien erfahren, wo sie selbstbestimmt, unabhängig, originell und

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