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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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im gleichen Maße – also unendlich – verlieren und finden. Sie sind zugleich Erregungs- und Bewusstseinsfanatiker.
    Jede Verliebtheit kritisiert das Bewusstsein als bloßen Rausch, bloß sexuell. Doch wenn die Verliebtheit vorbei ist, vermissen die Menschen eben jenen Rausch, jene Erregung, die ihr Bewusstsein zuvor kritisiert hat. Denn ausschließlich in der Erregung erkennen sie die Liebe, das wahre Leben .
    Ihre Freiheit zur Erregung und ihre Freiheit, sie selbst zu sein, führen die Menschen in einen permanenten, unauflösbaren [262] Widerstreit. Entweder leiden die Menschen an unerträglicher Erregungsarmut oder an unerträglicher Bewusstseinsarmut, also Bewusstseinsverklebung. Entweder sagen sie: »Ich bin nicht ich selbst, denn ich bin überhaupt nicht erregt.« Oder sie sagen: »Ich bin nicht ich selbst, denn ich bin mir meiner selbst gar nicht bewusst.« Die Menschen wollen – vor allem in der Liebe, die alle Versprechen der Freiheit einzulösen verspricht – das höchste Erregtsein und höchste Bewusstsein verbinden und müssen also scheitern.
    Tatsächlich wird berichtet von einem Mann, der seine freie Zeit ausschließlich mit Kino- und Konzertbesuchen, Reisen in den Süden und ans Meer sowie Extremsport verbrachte, jedoch während eines Films oder Konzertes, eines Tags am Meer oder einer extremsportlichen Betätigung pausenlos über sein augenblickliches Erlebnis nachdachte . Der gedankliche Faden, so wird weiter berichtet, sei dem Mann selbst beim Extremsport nie gerissen. Weder beim Heißduschen noch beim Kaltduschen sei ihm jemals auch nur eine einzige Gedankenlücke oder Bewusstseinslücke entstanden.
    Dennoch, so der Mann, werde sein Bewusstsein getrübt durch seine permanente Erregung, wie auch die Erregung getrübt werde durch sein permanentes Bewusstsein. Wenn er beispielsweise Achterbahn fahre und dabei Tagebuch schreibe, sei »weder das Eine noch das Andere richtig lohnend«. Eine Achterbahnfahrt ohne Tagebuch sei ihm aber »unvorstellbar«, ebenso wie das Tagebuchschreiben allein in einem Zimmer.
    Es heißt, der Mann habe sich seit seiner Jugend nicht mehr verliebt. Nach den Gründen befragt, sagte der Mann: derer kenne er viele.
    [263] Die freien Menschen sind Intellektuelle – Intellektuelle wider Willen. Ihre Intellektualität ist nicht Wahl, sondern Schicksal. Der totalen Bewusstseinsbildung ist in der unendlichen Freiheit nicht mehr zu entgehen. Die wissenschaftliche Bildung gehört zum Bildungsroman aller Menschen – die nun versuchen müssen, ihre befreite Vernunft zu vereinen mit der befreiten Liebe, der befreiten Sexualität. Vielmehr: die entdecken müssen, dass Liebe und Sexualität per se geisteswidrig sind – nicht weil sie so natürlich wären, sondern, im Gegenteil, weil sie künstlich sind: totale Kultur, Serienprodukt.
    Die freien Menschen haben eine total künstliche Fantasie – und zugleich ein Bewusstsein, dass alle Bilder »aus Dessouskatalogen« und »Lieblingsfilmen« für lächerlich befindet. Sie sind hin- und hergerissen zwischen Porno und Ironie, ihrem Porno-Extremismus und Ironie-Extremismus. Sie haben mehr Fantasien als alle Menschen zuvor, wollen alle Fantasien auch realisieren, jedoch erscheint ihnen jede realisierte Fantasie als eine lächerliche Wiederholung, als Klischee.
    Die Menschen wissen, dass auch ihr Partner weiß, dass alles künstlich und gemacht ist. Sie wissen, dass auch der Partner weiß, dass sie das alles wissen. Das allgemeine Bewusstsein schwebt über der Erregung wie der liebe Gott, der alles sieht.
    Doch wie sähe eigentlich der sogenannte Traum-, also Fantasiepartner der freien Menschen aus? Wie sähe einer aus, der sie erregt?
    Er wäre im klassischen Sinne schön . Was aber heißt das? Was sind die Bedingungen von Schönheit? Eine Bedingung ist, dass der Andere überhaupt ein Aussehen besitzt , dass der Betrachter ihm sein Aussehen lässt – dass er ihn anschauen kann, anstatt ihn zu durchschauen, sich auf sein Inneres zu konzentrieren.
    [264] Schönheit ist Oberfläche. Also kennen Menschen, die einen Röntgenblick haben, keine Schönheit. Sie können keinem Anderen sein Aussehen lassen. Anstatt ihn anzuschauen, durchschauen sie ihn. Sie sehen nicht mehr Haut, sondern Knochen, nicht mehr das Äußere, sondern immerzu das Innere, das ein Äußeres nur noch als Fassade oder Maske besitzt. Jedes Gesicht öffnet also sich vor den Menschen wie ein Theatervorhang, und ihr Blick fällt geradewegs auf das Schauspiel der Psyche.
    Ein

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